Historical Weihnachtsband 2010
und dachte im Geheimen, dass wohl nur wenige Dinge eine Frau erschrecken konnten, die ihr ganzes Leben in einem Anwesen auf dem Land verbracht hatte. Sie hegte den Verdacht, dass es kaum Damen am Hofe der Königin gab, die einen Eintopf aus Kutteln und Zwiebeln kochen oder den verletzten Kopf eines Stallburschen mit ruhiger Hand wieder zunähen konnten. Aber wenn ihr Gatte es vorzog, sie immer noch für zu empfindsam zu halten, um die Anblicke ertragen zu können, denen sie auf der Gull vielleicht begegnen mochte, dann würde sie sich nicht die Mühe geben, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.
Kit rief den jungen Burschen mit den strahlenden Augen zu sich, der, wie es schien, immer in Rufweite seines Kapitäns herumlungerte. Er wies ihn an, Lady Margaret überallhin zu begleiten, wohin sie wollte. Außer ins Innere des Schiffes, aufs Vorderteil und in die Mannschaftsunterkunft.
In Begleitung des Jungen, dessen Name John Smallwood war, entdeckte Margaret bald eine faszinierende Welt, in der jedes Seil, jeder Knoten, jedes Segel, jeder Ort, Mast und jedes Deck seinen eigenen speziellen Namen und Platz hatte. Mit stolzgeschwellter Brust deutete der Bursche auf die mit Blattgold verzierte, erlesene Galionsfigur der Gull , auf die sechzehn Pfund Kanonen des Hauptbatteriedecks und auf die aufgemalten, schwarz-weißen Fliesen des Segeltuchs, das den Boden der Offiziersmesse bedeckte.
Auf der Hälfte ihres Rundganges stieg Margaret aus einer Luke im Boden der verführerische Duft von gebratenem Fleisch in die Nase.
„Ist da unten die Küche?“
„Die Kombüse? Aye, Ma’am.“
„Könnten wir da hinuntergehen? Ich möchte sie mir gerne ansehen.“ Und vielleicht konnte sie auch einen Bissen Fleisch und Brot ergattern.
„Na ja …“ Der Junge zögerte. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er dazu wenig Lust hatte. „Es ist nur so, der Fleischerjunge und ich, wir sind uns sozusagen nicht grün. Der blöde Kerl zerlegt seine großen Schinken mit einem Hackmesser. Bevor wir lossegelten, musste ich ganz schön zur Seite springen, damit er mich nicht damit erwischte.“
Seine Klagegeschichte erinnerte Margaret an den ununterbrochenen Streit zwischen dem Burschen mit den semmelblonden Haaren, der die Essensreste an die Schweine verfütterte, und dem zweiten Melker. Am Ende bestand wohl zwischen einer Galeone und einem Landgut gar kein so großer Unterschied.
„Nun, dieses Mal bin ich an deiner Seite“, sagte sie und unterdrückte ein Lächeln. „Ich zweifle nicht daran, dass der Metzgerjunge sich in meiner Gegenwart höchst anständig benehmen wird.“
John strahlte. „Aye, das wird er sicher. Und während wir dort sind, kann ich das Essen für den Kapitän holen. Und Eures und Miss Violets auch, wenn Ihr mir sagt, was Ihr zu speisen wünscht.“
Die Aussicht, möglicherweise etwas anderes in den Magen zu bekommen als Schiffszwieback, hob Margarets Laune beträchtlich. Und so kletterte sie mühsam ein paar Stufen hinunter und verbrachte eine spannende Stunde in der Gesellschaft des Kochs der Gull und dessen Helfern. Sie inspizierte Öfen, Vorratsschränke, Ziegenpferche und Hühnerställe. Sie bewunderte den genialen Spieß, den der Koch selbst entwickelt hatte. Er wurde von der Hitze gedreht, die in den Kamin aufstieg, welcher den Rauch ans Oberdeck leitete. Um sich die Zeit bis zum Abendessen zu vertreiben, nahm sie freundlich lächelnd eine Schale Erbsensuppe entgegen, die bis zum Rand mit dicken Stücken frisch geräucherten Schinkens gefüllt war. Und außerdem erhielt sie obendrein ein Stück Rosinenkuchen, dessen knusprige Kruste noch immer dampfte.
Als sie sich wieder auf den Weg zurück machte, folgte ihr John Smallwood mit einem schwer beladenen Tablett. Margaret war klug genug, seine Würde nicht dadurch zu verletzen, indem sie sich erbot, ihm auf der Treppe behilflich zu sein.
Als sie das Achterdeck erreichte, hatte sich der Himmel rundherum bereits verfinstert. Die Luft brachte eine feuchte Kühle mit, weswegen Margaret sich den Mantel enger um die Schultern zog. Drei große, am Heck montierte Laternen waren angezündet worden. Man tat dies, um eine Kollision zu verhindern, wie ihr John mitteilte.
Die Männer, an denen sie vorüberging, versuchten gar nicht erst, ihre Neugier zu verbergen. Manche starrten sie frech an, andere legten in einer Art Gruß die Finger an die Stirn. Die Kälte und die forschenden Blicke, die an ihr klebten, raubten ihr den Atem, als sie jetzt noch eine kleine Treppe
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