Historical Weihnachtsband 2010
Kälte hatten sie ihre Tuniken abgelegt und kämpften nur mit Beinlingen bekleidet. Schweißbedeckt gingen sie mit langen Holzstäben aufeinander los. Auch was ihr Geschick im Umgang mit den Stäben betraf, waren sie einander ebenbürtig, denn jeder musste einmal zu Boden, wenn der Gegner ihn mit dem Stab traf. Elizabeth gelang es, sich vorzudrängen. Und jetzt erkannte sie die Kämpfenden.
Lord Orrick.
Und Lord Gavin.
Er war – sie waren – beeindruckend.
Sie wusste, dass es ein freundschaftlicher Wettstreit war, trotzdem bemühten die beiden sich nach Kräften. Mit angespannten Muskeln empfingen sie die Schläge, die sie zu Boden zwingen sollten. Ihr Atem ging keuchend. Jemand, der vor Elizabeth stand, drehte sich um und erkannte sie. Er trat zur Seite, und sie konnte sich jetzt dicht an den Zaun stellen, der den Hof umgab.
Wie sie sich schon gedacht hatte, war Gavin ein wunderbarer Kämpfer. Er stieß seinen Kriegsschrei aus, wenn er Lord Orrick angriff, und seine Wildheit ließ Elizabeth erschauern. Das konnte nicht der Mann sein, den ihr Widerstand so wenig gereizt hatte. Als hätte er ihre Gedanken vernommen, drehte er sich um und erblickte sie. Elizabeth hielt den Atem an.
Lord Orrick nutzte es aus, dass sein Gegner einen Augenblick lang abgelenkt war und versetzte ihm einen Schlag, der ihn in den gefrorenen Schlamm des Bodens schickte. Lachend erklärte Lord Orrick sich selbst zum Sieger. Dann streckte er seinem Freund die Hand hin.
Sie hatte ihn um den Sieg gebracht. Weil sie ihn abgelenkt hatte. Wie würde er auf diese für ihn so peinliche Situation in aller Öffentlichkeit reagieren? Er konnte doch wohl nicht darüber hinweggehen?
Elizabeth wollte seine Reaktion lieber nicht abwarten und zog sich zurück. Sie dachte nur noch an Flucht und eilte zum Tor. Einige Augenblicke später hatte sie das Tor hinter sich gelassen und lief auf ihre Hütte zu. Atemlos kam sie dort an, schob den Riegel zurück und trat ein. Sie hielt die Tür fest umklammert, damit der Wind sie nicht gegen die Wand schlug und schloss sie sorgsam hinter sich.
Die Hütte war noch genau so, wie sie sie verlassen hatte. Alles schien noch an seinem Platz zu sein. Als Erstes löste sie das Stück Leder, welches das kleine Fenster verdeckte. Dann entzündete sie mit Zunder und Flintstein eine kleine Lampe und untersuchte den Raum genauer. Eigentlich gab es nur zwei Dinge, die sie überprüfen musste, und die waren in der Mauer neben der kleinen Feuerstelle versteckt. Mit geübter Hand zog sie einen Stein heraus und griff dahinter nach dem kleinen Kasten, den sie dort aufbewahrte. Er war immer noch dort. Sie wollte ihn gerade herausnehmen, als es an der Tür klopfte.
„Mistress Elizabeth?“, rief eine Stimme. Es war eine Männerstimme. „Seid Ihr da?“
War ihr bereits einer gefolgt? Elizabeth schob den Stein wieder an seinen Platz. Sie wusste, dass die Untätigkeit bei Tag und Nacht viele Männer unruhig werden ließ. Aber sie hätte nicht geglaubt, dass ihr einer so bald folgen würde.
Sie ging zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit, um zu sehen, wer draußen stand. Es war der Sohn des Müllers. Er musste gesehen haben, wie sie die Burg verließ, und war ihr gefolgt. An der Art, wie er unruhig von einem Fuß auf den anderen trat, und an den heißen Blicken, die er ihr schenkte, erkannte sie, was er wollte. Mit einem resignierten Seufzer schob sie die Tür auf, um ihn einzulassen. In diesem Moment war hinter dem jungen Mann das Knacken toter Äste zu vernehmen. Beide reckten die Hälse, um herauszufinden, was das Geräusch verursacht hatte.
Sauber, aber immer noch ein wenig nass nach der hastigen Reinigung, die er vorgenommen haben musste, trug Lord Gavin sein Haar jetzt aus dem Gesicht gebunden. Die Tunika klebte an seiner immer noch feuchten Haut. Und er starrte Elizabeth mit solch einer erschreckenden Eindringlichkeit an, dass sie nicht anders konnte, als regungslos zurückzustarren. Der Müllersohn verstand die Botschaft. Ein Edelmann erhob Anspruch auf diese Frau. Er zupfte an seiner Stirnlocke, stammelte eine Entschuldigung und stolperte rückwärts davon. Wenig später waren Elizabeth und Gavin allein.
„Mylord.“ Elizabeth trat beiseite, um ihn einzulassen. Aufmerksam musterte sie sein Gesicht, als er an ihr vorbeiging. Sie versuchte herauszufinden, ob er ihr böse war oder nicht. Letzte Nacht hatte er ihr versprochen, sie nicht gegen ihren Willen zu nehmen. Warum war er ihr dann hierher gefolgt? War er wütend
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