Historical Weihnachtsband 2010
Doch so schnell sie auch lief, Lady Chandre hetzte hinter ihr her, den Flur hinunter und eine Wendeltreppe hinauf. Rosemary stürzte durch die offene Tür am Ende der Treppe und zögerte kurz. Sie warf einen Blick nach rechts und links. Rechts, dachte sie und lief den Flur hinunter, der immer wieder in eine neue Richtung führte. Die Gemälde an der Wand flogen wie in einem Nebel an ihr vorüber. Dicht hinter ihr erklangen Lady Chandres hysterische Schreie. Zu dicht.
Dann umrundete Rosemary eine Ecke und erblickte Licht am anderen Ende des Ganges. Die Freiheit lockte. Sie nahm all ihre Kraft zusammen und rannte noch schneller. Doch gerade als es schien, als hätte sie es geschafft, tauchte eine große, männliche Gestalt in der Türöffnung auf.
„Haltet sie!“, gellte Lady Chandre.
Rosemary wurde klar, dass ihre ungestüme Flucht ein Ende hatte. Sie war gefangen. Und entsetzt.
„Rosemary!“ Williams tiefe Stimme erfüllte den Gang. Und dann war er da und riss sie in seine Arme.
„Vorsicht!“, rief Rosemary. „Lady Chandre … hinter mir.“
„Das ist Lady Chandre?“, fragte William ungläubig.
In seiner sicheren Umarmung wagte Rosemary, sich umzudrehen und zurückzuschauen. Auf halber Strecke kniete im bernsteinfarbenen Lichtkreis eines Wandleuchters eine Frau auf dem Boden des Ganges. Lady Chandre. Ihr über und über mit Juwelen geschmücktes Gewand schimmerte im Licht. Ihr Gesicht war mit Blasen bedeckt und bis zur Unkenntlichkeit geschwollen.
„Das arme Ding“, flüsterte William. „Hat Baldassare ihr das angetan?“
„Nein, ich war es.“ Rosemary barg ihr Gesicht an Williams breiter Brust. „Was sie auch für Verbrechen begangen haben mag, es tut mir leid.“
„Still, Liebes. Das werden wir später klären.“ William hob sie hoch und trug sie auf seinen Armen zur Tür, wo zwei Männer warteten. „Jasper, Arnald, seht zu, was Ihr für Lady Chandre tun könnt.“
„Seid vorsichtig“, flüsterte Rosemary. „Ihre Männer sind oben und durchsuchen Baldassares Sachen nach der Myrrhecreme.“
„Wir werden uns darum kümmern“, antwortete Jasper und zog sein Schwert. Benommen betrachtete Rosemary Williams ernste Züge, während er sie davontrug. „Du bist nicht auf See“, murmelte sie.
„Nein, Gott sei Dank.“ Er umfasste sie fester und schaute auf sie hinunter. „Jesus, was ist hier nur geschehen?“
„Oh William, es war schrecklich. Du kannst es dir nicht vorstellen!“ Sie erschauerte.
„Scht. Denk jetzt nicht daran. Bei mir bist du sicher. Später, wenn du dich ausgeruht hast, werden wir darüber sprechen.“
Zu erschöpft und mit zu großem Herzweh, um auch noch zu streiten, schloss Rosemary die Augen und ließ es zu, dass er sie hinaus in das blasse Licht der Dämmerung trug.
11. KAPITEL
6. Januar, Dreikönigsfest
Dankbar ließ Rosemary sich in das heiße Wasser gleiten. „Oh, das fühlt sich wunderbar an.“ Seufzend lehnte sie den Kopf gegen den Holzrand und genoss es, wie die Wärme in ihre Glieder drang.
„Ihr solltet im Bett sein“, brummelte Winnie, prüfte das Wasser und fügte noch ein wenig warmes hinzu.
„Ich bin nicht müde.“ Es war am frühen Abend des Tages, der ihrer dramatischen Rettung gefolgt war. Rosemary hatte stundenlang geschlafen, nachdem William sie in sein Stadthaus zurückgebracht und fürsorglich ins Bett gelegt hatte. Erst vor einigen Augenblicken war sie aufgewacht, ausgeruht, aber immer noch zitternd wegen der Geschehnisse in Baldassares Arbeitsraum. Sie fand Anna und Winnie vor, die beide darauf warteten, sie zu bedienen.
„Könntet Ihr nicht ein wenig mehr von der Suppe essen?“, fragte Anna.
„Nein danke, auch wenn sie sehr köstlich war.“
Anna strahlte, doch sie wich auch weiterhin nicht von Rosemarys Seite. Ganz im Gegensatz zu ihrem früheren kühlen Verhalten bemutterte sie sie jetzt wie eine Henne ihr Küken. „Aber etwas Brot? Ich habe es in der Küche warm gehalten.“
Lächelnd schüttelte Rosemary den Kopf. Dann stellte sie die Frage, die ihr seit dem Erwachen im Kopf herumging. „Ist Lord William hier?“
„Aye, er ist unten und regelt einige Dinge.“
„Oh.“ Als er sie sehr früh am Morgen hierher gebracht hatte, übergab er sie Annas Obhut, ohne zu sagen, warum er nach London zurückgekehrt war. Sie wagte zu hoffen, dass er vielleicht seine Meinung über sie beide geändert hatte. Und was, wenn nicht? Was, wenn er aus irgendeinem wichtigen Grund zurückgekommen war, von ihrer Entführung gehört
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