Historical Weihnachtsband 2010
Missverständnis …“
„Halte den Mund, du Undankbarer.“ Speichel sprühte von ihren rot geschminkten Lippen, während sie sich in Tiraden erging. „Als du mehr exotische Gewürze benötigt und gezögert hast, sie offen zu kaufen, damit die anderen Apotheker nicht errieten, was du vorhattest, habe ich da nicht René angeheuert, damit er sie für dich stiehlt?“
„Heilige Mutter Gottes“, keuchte Rosemary. Ihr stockte der Atem, als ihr die Ungeheuerlichkeit des Verbrechens bewusst wurde. Hatte Lady Chandre René befohlen, zu töten? Oder hatte der Räuber sich selbst dazu entschieden? Wie auch immer, ihre eigene Lage war jetzt mehr als ernst. Während sie mit einem Auge nach den Kämpfenden schielte, schlich sie zur Tür. Doch wie sollte sie an den Wächtern vorbeikommen?
„Meine Liebe“, schmeichelte der Conte mit öligem Lächeln, den Rücken an die Wand gepresst. „Ihr glaubt doch sicher nicht, dass ich Euch betrügen wollte. Ich dachte, wir könnten einen kleinen zusätzlichen Gewinn machen, aber ich kann …“
„Gieriger Bastard!“ Lady Chandre zog ein Messer, stieß es Baldassare in die Brust und drehte es herum.
Der Conte riss die Augen auf. Ein zischender Laut drang aus seinem offenen Mund. Dann verdrehte er die Augen und sank zu Boden.
„Männer“, murmelte Lady Chandre, als sie sich abwandte. „Immer denken sie nur an sich.“
Rosemary starrte sie an. Sie war zu entsetzt, um sich zu bewegen oder auch nur etwas sagen zu können.
„Wo hat er den Rest der Creme versteckt?“, fragte Lady Chandre.
„Ich weiß es nicht.“ Rosemary riss den Blick von dem toten Körper des Conte los und sah zur Tür. Sie musste hier raus.
Lady Chandre schnippte mit den Fingern, um die Wächter auf sich aufmerksam zu machen. „Jenkins, hol die Männer, die wir draußen gelassen haben, und durchsucht das Haus. Martin, fang im Schlafzimmer des Conte an und bring mir die Juwelen, die ich ihm gab. Er wird sie jetzt nicht mehr brauchen.“
Entsetzt schob Rosemary sich näher zur Tür.
Lady Chandre packte sie am Arm und stieß sie zum Arbeitstisch. „Sucht einen leeren Kasten und dann packt diese Krüge hier ein. Wickelt sie in Tücher, damit gesichert ist, dass sie nicht zerbrechen.“
Rosemary wagte nicht zu widersprechen und nahm den ersten, ihr passend erscheinenden Kasten von einem Stapel und stellte ihn auf den Tisch. Sie gab sich nicht der Illusion hin, dass Lady Chandre sie gehen lassen würde, so besessen wie sie von ihrer Schönheit war. Rosemary stellte sich vor, wie sie ihr Leben angekettet in irgendeinem dunklen Winkel verbrachte und aus Myrrhe diese verdammte Jugendcreme herstellte. Hätte Onkel Percy doch nie dieses Rezept entdeckt, dachte sie und öffnete den Kasten.
Drinnen lag eine einzige, viereckige Schachtel. Sie war genauso sorgfältig beschriftet wie der Rest von Baldassares Vorräten. Pipsissewa. Pipsissewa? Während Rosemary die Schachtel herausnahm, versuchte sie sich an die zahllosen Unterrichtsstunden in Kräuterkunde zu erinnern, bis ihr einfiel, dass der übliche Name für dieses Kraut Winterlieb war. Und es reizte die Haut.
„Steht nicht herum und starrt Löcher in die Luft“, zürnte Lady Chandre. „Entfernt, was immer da drin ist, und verpackt endlich meine kostbare Creme.“
„Wie Ihr wünscht, Mylady.“ Rosemary öffnete die kleine Schachtel und schüttete ihr Pipsissewa ins Gesicht.
Lady Chandre wich zurück, doch dann packte sie Rosemarys Arm, ehe diese fliehen konnte. „Das war sehr dumm von Euch“, fauchte sie. Der dunkelgrüne Puder klebte an der Creme, mit der sie ihr Gesicht eingerieben hatte.
„Lasst mich gehen“, schrie Rosemary.
„Nein, denn ich brauche Eure Dienste.“ Lady Chandre wischte sich über die Wange, doch damit erreichte sie nur, dass sie alles noch mehr verschmierte. Sie kniff mit bösartigem Ausdruck die Augen zusammen. „Ich hätte Euch anständig behandelt, aber jetzt …“ Sie zuckte zusammen und wischte sich wieder über die Wange. „Verdammt, was ist das? Es brennt wie Feuer. Macht es weg! Macht es weg, sage ich!“ Sie ließ Rosemarys Arm los und griff sich mit beiden Händen ins Gesicht.
Rosemary drehte sich um und rannte los. Sie hörte, wie die andere hinter ihr die Verfolgung aufnahm. Schmerzensschreie und wilde Flüche folgten Rosemary, die ihre Röcke raffte und den düsteren Korridor hinuntereilte. Dumpf erinnerte sie sich an den Weg, den sie in der ersten Nacht genommen hatten. Die Panik verlieh ihr Flügel.
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