Historical Weihnachtsband Band 4
Erleichterung, das schwere Trauerkleid und das Korsett ablegen zu können. Schließlich schlüpfte sie aus den Schuhen und ihren an vielen Stellen geflickten Strümpfen. Erschaudernd zog sie sich rasch Nachthemd und Morgenrock über und hängte das Kleid neben die vielen farbigen, die sie ein ganzes Jahr lang nicht würde tragen können.
Bedrückt kehrte sie zum Bett zurück, löschte die Lampe und schlüpfte unter die eisigen Laken, die sie rasch bis ans Kinn hochzog. Insgeheim schwor sie sich, Weihnachten, Geburtstage und vor allem Tobias Templeton aus ihren Gedanken zu vertreiben.
Tobias Templeton zog die Schultern hoch, sodass der aufgestellte Kragen seines Mantels ihn etwas besser vor dem scharfen Eisregen schützen konnte. Kaum eine halbe Stunde, nachdem er auf sein Pferd gestiegen war, um zum nächstgelegenen Bahnhof zu reiten, war das Wetter immer ungemütlicher geworden. Ein gewöhnlicher Mensch hätte kehrtgemacht. Ein gewöhnlicher Mensch hätte zumindest Unterschlupf für die Nacht gesucht.
Tobias allerdings war alles andere als gewöhnlich.
Mit seiner schimmernd blassen Haut, dem weißblonden Haar und den fast schmerzhaft lichtempfindlichen Augen sah er eher wie ein Geist aus als wie ein Mensch. Bisher hatte jeder Arzt lediglich seinen seltsamen Zustand festgestellt, ohne etwas dagegen unternehmen zu können.
Er war das einzige Kind zweier Menschen, die für ihre dunkle Schönheit bewundert wurden. Und so galt er nicht nur als Missgeburt in der Gesellschaft, sondern auch als Ausgestoßener in seiner eigenen Familie. Er war der Grund, weswegen seine Eltern kein zweites Kind in die Welt gesetzt hatten in der Furcht, der Fehler, der Fluch, könnte sich wiederholen. Selbst jetzt machte seine verwitwete Mutter den Eindruck, sie könne seinen Anblick kaum ertragen.
Zu ihrer beider Glück brauchte sie das auch nicht, jedenfalls nicht sehr oft. Tobias blieb in seinen eigenen Räumen, besonders in seiner Bibliothek, und überließ ihr das übrige mehr als weitläufige Herrenhaus. Eine Schutzbrille mit dunklen Gläsern, eine Vorrichtung, die er selbst ersonnen hatte, erlaubte es ihm, sich bei Tageslicht außer Haus zu wagen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Meistens jedoch war es einfacher für ihn, bei zugezogenen Vorhängen bis zum Ende des Tages auszuharren.
Statt also wie jeder gewöhnliche Mensch sein Herrenhaus in Hungerford bei Tagesanbruch zu verlassen, hatte Tobias die Dämmerung abgewartet, da das schwächere Licht freundlicher zu seiner Haut und seinen Augen sein würde. Als er den Bahnhof erreichte und er sein Pferd in einem Mietstall untergebracht hatte, stand die Abfahrt des letzten Zuges nach London kurz bevor. Tobias beabsichtigte nicht, einen Platz in der zweiten Klasse zu erstehen, aber nicht etwa, weil ihm die Gesellschaft nicht behagen würde. Während der Reise in den engen öffentlichen Abteilen wäre er jedoch den neugierigen Blicken der anderen Passagiere ausgesetzt.
So wenig es ihn danach verlangte, das Weihnachtsfest zu feiern, so war es zumindest seine Absicht, es so zu verbringen, dass er sich nicht wie die Hauptattraktion einer Kuriositätenschau zu fühlen brauchte.
Aber noch beunruhigender als seine körperlichen Makel erschien ihm etwas, das ihn an seiner Vernunft zweifeln ließ. Seit er denken konnte, war er von dem Gefühl besessen gewesen, er sei nur die Hälfte eines Ganzen und ein wichtiger Teil seines Selbst fehle ihm. Ebenso hartnäckig verfolgte ihn der Traum von einer hochgewachsenen, in geisterhaftes Weiß gekleideten rothaarigen Frau, die ihn voller Entsetzen mit ihren verschiedenfarbigen Augen anstarrte. Der Schrei, der sich jedes Mal ihrer Kehle entrang, würde selbst Tote erwecken. Sein Geistermädchen, wie Tobias sie insgeheim nannte.
Seinen seltsamen Zustand hatte er behandelt, wie man es für gewöhnlich mit ungeklärten Phänomen tat. Er hatte ihn zu erforschen gesucht, indem er Unmengen von Büchern verschlang. In der Metaphysik lag seine einzige Hoffnung, davon war er überzeugt. Nach jahrelangen ausweglosen Enttäuschungen glaubte er unvermindert, die Lösung finden zu können und damit seine Heilung.
Dass sich die Antwort auf alles in den Seiten eines Buches befinden sollte, schien ihm nur einleuchtend – allerdings nicht in irgendeinem Buch, sondern in einem sehr seltenen Band, einer erst kürzlich wiederentdeckten Abhandlung über die Metaphysik von Aristoteles selbst. Es hieß, dieses Buch enthalte das Geheimnis von dem legendären lapis
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