Hitlers Berlin
»leider« auch heute »noch kein Verlust«; genau drei Monate später hielt derselbe Stenograf aus einer anderen nächtlichen Einlassung einen dem genau widersprechenden Satz fest: »Berlin habe ich immer gern gehabt, und wenn es mich kümmert, daß vieles da nicht schön ist, so nur, weil die Stadt mir etwas bedeutet.« Solche Beliebigkeit sollte man nicht überbewerten; sie war typisch für Hitler, der sich in seinen öffentlichen Ansprachen wie seinen Monologen vor der Entourage regelmäßig in Rage redete, ohne die Schlüssigkeit seiner Äußerungen zu bedenken oder sich überhaupt dafür zu interessieren.
Hitler erkannte schon früh, dass der politische Kampf um Berlin nicht nur keineswegs unwichtig, sondern sogar entscheidend sein würde. Das zeigt bereits ein Brief vom 1.März 1920 an Walter Riehl, den Chef der damaligen, völlig unabhängig entstandenen österreichischen Nationalsozialisten. Riehl hatte eine Zusammenarbeit der verschiedenen nationalsozialistischen Splittergruppen in Deutschland und Österreich angeregt. Ihm antworteten Hitler und der damalige Vorsitzende der NSDAP, Anton Drexler. In ihrem unbeholfen formulierten Brief heißt es: »Die Fehler und Schattenseiten Berlins erscheinen uns nicht als unzertrennlich von dieser Stadt an und für sich, sondern nur als notwendige Folge einer sogenannten Kultur, die in ihrem Wesen nach nicht sehr bestimmt wird durch Einflüsse germanischer Rassenart, sondern jüdischer.« Es sei nur zu natürlich, dass der »Fluch dieser Mißkultur« in der größten Stadt des Reiches »am verderblichsten zur Geltung« komme. »Deshalb kann unser Kampf auch nicht dieser Stadt als solcher gelten, sondern den allgemeinen Ursachen dieser Zustände. Wir empfinden den sogenannten ›Kampf gegen Berlin‹ als Maske für das Ziel, Deutschland durch die Beseitigung seiner Reichshauptstadt politisch in seine frühere Ohnmacht und Zersplitterung zurückzuschleudern.« Nichts wollte Hitler weniger als das – mehrfach ließ er 1920/21 Versammlungen des bayerischen Separatisten Otto Ballerstedt in München sprengen. 9
Unterwegs als Bittsteller
Wie sein erster Besuch in Berlin überhaupt, so kam auch Hitlers erste politisch motivierte Reise in die Hauptstadt zufällig zustande: Nachdem am 13. März 1920 der ostpreußische Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp mit der Marinebrigade Ehrhardt geputscht hatte und die legitime Reichsregierung aus Berlin geflohen war, wollte der Münchner Reichswehr-Hauptmann Karl Mayr den vermeintlich neuen »starken Mann« umgehend über die politischen Verhältnisse in Bayern informieren. Mayr gehört zu den besonders rätselhaften Figuren der Nachkriegszeit: 1919/20 dachte er stramm national, wechselte aber wenige Jahre später zum sozialdemokratischen Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und wurde kurz vor Kriegsende im KZ Buchenwald ermordet. Der Hauptmann amtierte nach der Niederschlagung der Münchner Räterepublik als Leiter der Nachrichtenabteilung beim Generalkommando der Armee und schickte sein Protegé zu Kapp nach Berlin: Adolf Hitler. Karl Mayr hatte Anfang Juni 1919 das rednerische Talent des durch Niederlage und Revolution gestrandeten Gefreiten »entdeckt« und sich zunutze gemacht. Die politische Karriere Hitlers begann ja keineswegs im November 1918 im Lazarett in Pasewalk, wie er im wohl meist zitierten Satz aus Mein Kampf behauptet (»Ich aber beschloß, Politiker zu werden.«) – am Anfang seines beispiellosen Aufstiegs stand vielmehr ein Spitzelauftrag: Als V-Mann besuchte er auf Anweisung Mayrs am 12. September 1919 in einer Münchner Kneipe eine öffentliche Versammlung der unbedeutenden Deutschen Arbeiter-Partei (DAP). Der Eisenbahnschlosser Anton Drexler und der Sportjournalist Karl Harrer hatten diese Gruppierung am
5. Januar in einem Münchner Lokal gegründet. Sie sollte den Ideen der völkisch-großbürgerlichen Thule-Gesellschaft ein Fundament in breiten Kreisen der Bevölkerung verschaffen. Vorerst allerdings hielt sich die Resonanz sehr in Grenzen; zu ihren Treffen in Hinterzimmern von Kneipen kamen laut der erhaltenen Anwesenheitslisten mal zehn, mal 38, mal 41 Zuhörer.
Die DAP war nur eine von vielen völkischen Splittergruppen, die sich in Deutschland nach der Niederlage im Weltkrieg offiziell gründeten. Es gehörte zu Mayrs Aufgaben, sämtliche möglicherweise politischen Vereine in Bayern zu überwachen. Er hatte damit viel zu tun; die Akten seiner Abteilung verzeichnen genau 50 Neugründungen von der
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