Hitlers Berlin
Reichsparteitag Anfang Juli wurde er zwar, wenn man seiner eigenen Darstellung glaubt, in einer Art tumultarischer Nominierung zum nächsten Gauleiter der Hauptstadt designiert: »Die Berliner packen mich. Endloses Theater mit mir (…) Ich werde irgendwo und von irgendwem auf die Schulter gehoben und in den Saal getragen. Was mir sehr peinlich ist. (…) Den ganzen Tag Palaver. Soll ich nach Berlin gehen?« Doch so konkret stellte sich diese Frage noch nicht. Erst sieben Wochen später, kurz nach der NSDAP-internen Schlägerei in Haverlands Festsälen Ende August, notierte er: »Antrag der Parteileitung an mich: Ich soll vier Monate den Gau Berlin kommissarisch übernehmen.« Hellauf begeistert reagierte Goebbels nicht: »Nach München, wegen Berlin. Halbe Absage. Ich will mich nicht in Dreck hineinknien.« 8
Inzwischen lag die Entscheidung allerdings nicht mehr bei Goebbels; aus Berliner Sicht beschrieb Reinhold Muchow den Gang der Ereignisse wie folgt: »Als in den Wirrwarr keine Ordnung zu bringen war und als es sogar soweit kam, daß die in Opposition stehenden Ortsgruppen alle Gaumaßnahmen des stellvertretenden Gauleiters ignorierten, wurden Verhandlungen mit der Reichsparteileitung gepflogen und um einen neuen Gauleiter gebeten. Endlich gelangte die Nachricht an uns zurück, daß voraussichtlich Parteigenosse Goebbels der zukünftige Gauleiter von Groß-Berlin werden würde.« Der mittlerweile offiziell benannte Kandidat fuhr Mitte September ein weiteres Mal in die Hauptstadt und »empfing« den ehemaligen Gauleiter Schlange und dessen nun amtierenden Stellvertreter Erich Schmiedicke »ganz in der Manier des Chefs«, wie der Goebbels-Biograf Ralf Georg Reuth feststellt. »Beide wollen, daß ich komme. Soll ich nun oder soll ich nicht?«, lautet die rhetorische Frage im Tagebuch. Goebbels hatte sich inzwischen damit angefreundet, Gauleiter zu werden – seine Notiz vom selben Datum: »Berlin bei Nacht. Ein Sündenpfuhl! Und dahinein soll ich mich stürzen?« war eher eine stilistische Fingerübung als ernster Zweifel.
Allerdings wollte er gebeten werden – was Schmiedicke pflichtgemäß auch tat: Es sei »der dringendste Wunsch aller Berliner Parteigenossen, Sie als Gauführer zu bekommen«, schrieb er am 16. Oktober 1926 an Goebbels. Und weiter: »Dieser Wunsch begründet sich auf den festen Glauben, dass Sie allein in der Lage sind, die Organisation als solche hier in Berlin zu festigen und die Bewegung vorwärtszutreiben. Sie können mit aller Bestimmtheit mit der allerstärksten Mitarbeit und größten Opferwilligkeit sämtlicher Parteigenossen rechnen.« Weil die Berliner NSDAP »gegen die zusammengefaßten Kräfte aller Feinde« kämpfen müsse, sei eine »überragende Persönlichkeit« notwendig. Falls Goebbels absagen sollte, würde »Berlin für die gesamte Bewegung auf absehbare Zeit [als Feld des politischen Kampfes] kaum noch in Frage kommen«. Es hänge allein von seiner Zustimmung ab, aus Berlin die »stärkste und beste Kampftruppe des Nationalsozialismus zu machen«, schrieb Schmiedicke. »Berlin mit seinen fünf Millionen, auf einem verhältnismäßig kleinen Fleck zusammengeballten Menschen bietet zweifelsohne den allergüns tigsten Boden für das Wachsen unserer Bewegung.« Auf diesen Brief hin notierte Goebbels: »Am 1.November geht’s nun endgültig nach Berlin. Berlin ist doch die Zentrale. Auch für uns. Weltstadt.« Er konnte es kaum noch erwarten. 9
Anders Hitler: Der Parteichef hatte 1926 zwar häufig über die Reichshauptstadt geredet, sie aber anscheinend nicht oder nur kurz, auf der Durchreise, besucht; mit Sicherheit hat er in diesem Jahr kein einziges Mal in Berlin gesprochen. Der Grund konnte nicht das Redeverbot sein, das die preußische Regierung erlassen hatte – in geschlossenen Veranstaltungen oder vor geladenen Gästen durfte er auftreten und tat das auch in anderen Gegenden Preußens, zum Beispiel in Bochum, Elberfeld und Essen. Anzunehmen ist, dass Hitler dem Konflikt in der Berliner Parteigruppe aus dem Weg gehen wollte; schon Mitte der zwanziger Jahre wich er unangenehmen Entscheidungen gern aus und ließ sich die Dinge lieber entwickeln, um dann »steuernd« einzugreifen, wenn sich die eine oder andere Seite durchzusetzen begann. Diese offensichtlich instinktive Herrschaftsmethode lässt sich während der »Friedensjahre« seiner Kanzlerschaft ein Jahrzehnt später häufig beobachten.
Nachdem er sich aber einmal entschieden hatte, Goebbels zum Gauleiter zu
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