Hitlers Berlin
gerechnet wurde.« Tatsächlich war Ungeheures geschehen, jedenfalls für eine derartig auf Befehl und unbedingten Gehorsam ausgerichtete Organisation wie die NSDAP: Gauleiter Schlange hatte angesichts des Konflikts resigniert und die Geschäfte seinem Stellvertreter Erich Schmiedicke übertragen; Kurt Daluege präsentierte daraufhin bei einem Treffen der Berliner Ortsgruppe in Haverlands Festsälen nahe des Hackeschen Marktes am 25.August 1926 einen neuen Kandidaten für den Gauleiter-Posten, den ehemaligen Freikorps-Mann Heinz Oskar Hauenstein. Demokratische Verfahren aber waren etwas völlig Fremdes für die Hitler-Partei; Hauenstein und Otto Strasser ohrfeigten einander, die Sitzung artete in eine wüste Prügelei aus.
Daluege behauptete, er habe telefonisch aus München Hitlers Genehmigung für die Kampfkandidatur eingeholt, was jedoch zweifelhaft ist. Denn laut eines Spitzelberichts der Berliner Politischen Polizei ließ Hitler der Versammlung von etwa 120 Aktivisten ausrichten, »er könne von München aus die Berliner Verhältnisse nicht überblicken«, die Funktionäre vor Ort sollten »von sich aus« die Angelegenheit regeln. »Hitler selbst wird alsdann nach dieser Regelung entweder persönlich nach Berlin kommen oder jemanden bitten, ihm in München über die getroffenen Maßnahmen Bericht zu erstatten«, vermerkte der Polizeibericht. Tatsächlich aber hatte der NSDAP-Führer schon eine andere Lösung des Berlin-Problems ins Auge gefasst. 7
Goebbels tritt an
»Alle wollen mich nach Berlin als Retter«, notierte der 29-jährige Joseph Goebbels am 10. Juni 1926 in sein Tagebuch. Seine Begeisterung jedoch hielt sich in Grenzen: »Ich danke für die Steinwüste!« Goebbels war gerade wieder einmal einige Tage in der Hauptstadt, als reisender Parteiredner der NSDAP, und trat in Spandau auf.Angeblich ein »Riesenerfolg« vor 2 000 Besuchern – mit Sicherheit eine weit übertriebene Zahl. Am folgenden Abend sprach Goebbels in Neukölln: »Kein trockener Faden ist mehr an mir. Am Schluß eine riesige Kundgebung für unsere Idee.« Die Berliner Zeitungen allerdings nahmen von beiden Veranstaltungen keine Notiz. Wie alle Angaben in Goebbels’ Aufzeichnungen muss man auch diese mit äußerster Vorsicht lesen, denn schon von Beginn seiner Karriere an war der spätere Propagandaminister ein notorischer Manipulator. Noch zielten seine Verfälschungen aufs eigene Selbstbewusstsein; binnen weniger Jahre aber benutzte er seine beinahe täglichen Notizen als Grundlage für hunderttausendfach verkaufte Bücher. Sein Aufstieg gelang Joseph Goebbels in Berlin – und geradezu gegen die Metropole.
Anderthalb Jahre zuvor hatte der kleine, schmächtige, durch einen verwachsenen rechten Fuß behinderte Rheinländer zum ersten Mal die Hauptstadt im Dienste seiner Partei bereist, um vor Anhängern der »völkischen Idee« ein Referat über die »Mittelstandsfrage« zu halten. Sein Eindruck »war teils sehr kläglich«, schrieb er am 4. November 1924 in seine Kladde. Ein halbes Jahr später verbrachte er auf der Durchreise ein paar Stunden in Berlin und fand seine Ansicht über die Stadt bestätigt: »Eine entsetzliche Steinwüste mit Parfum und Frauenfleisch, das in schamloser Weise zur Schau gestellt wird. Siegesallee. All diese großen, nichtssagenden Steinmassen. Und die entsetzlichen Menschen!« Noch kannte sich Joseph Goebbels in der Metropole nicht aus; er verlief sich. Schließlich verschlug es ihn ins elegante Café Unter den Linden – und er vermerkte voller Abscheu: »Internationales Gesindel! Das ist ›unsere‹ Kapitale!«
Ein weiteres halbes Jahr später, Ende November 1925, war Goebbels erneut im »Sündenbabel Berlin« und sprach angeblich vor »Tausenden« – was sehr unwahrscheinlich ist angesichts des niederschmetternden Ergebnisses der Kommunalwahl vier Wochen zuvor. Immerhin lernte Goebbels bei diesem Besuch die Familie Bechstein kennen, deren Haus in Mitte er ganz treffend »Hitlers Salon« nannte: »Ich werde aufgenommen wie ein alter Freund«, liest man im Tagebuch. Beim nächsten Besuch ein paar Wochen später schien er dann Gefallen gefunden zu haben an den Reizen der Großstadt: »Berliner Café. Toller Nachtbetrieb.« Dennoch zögerte Joseph Goebbels, den »Kampf um die Hauptstadt« zu leiten: »Ich möchte schon, daß Hitler mich nach München beriefe«, schrieb er am 12. Juni 1926. Der Grund für seine Zurückhaltung waren die Streitigkeiten in der Berliner Ortsgruppe. Beim Weimarer
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