Hitzschlag: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
die sterbenden Seelen zutaumelten wie ein Schwarm Motten auf eine Laterne, um dann endlich und ein für alle Mal zu verglühen …
Trotzdem hielt allein die Tatsache, dass sie sich in völliger Dunkelheit befand, die Hoffnung in ihr am Leben. Kein Licht = kein Tod. Kein Tod = kein Grund zum Aufgeben. Eine ganz einfache Rechnung.
Eigentlich verdammt jämmerlich für die kompromisslose Realistin, die sie zeit ihres Lebens gewesen war!
Ihre Augenlider, die zugleich das Einzige waren, was sie bewegen konnte, begannen zu flattern, während sich ihre Ohren hilfesuchend an die zweite Konstante klammerten, die diese seltsame Umgebung kennzeichnete, in die sie geraten war: das Geräusch von Wasser.
Sie hatte dieses Geräusch genau analysiert, ohne aus dieser Analyse auch nur die geringsten Erkenntnisse ableiten zu können: Das Wasser, das sie hörte, floss nicht. Es entströmte keinem Wasserhahn, beschrieb keine Wellenbewegungen, sondern war einfach nur da. So wie sie selbst …
Wenn dieses verdammte Wasser einfach nur da wäre , könntest du es nicht hören , widersprach ihr Verstand. Schall entsteht nur dort, wo eine Schwingung auf einen Widerstand trifft. Elementarphysik.
Wenn das hier ein Schwimmbad wäre, würde es anders riechen, versuchte Jo wie so viele Male zuvor dem vermutlich letzten Geheimnis ihrer Karriere auf die Spur zu kommen. Ich würde eine andere Art von Luft atmen. Ein anderes Gefühl haben. Aber was …
Sie stutzte, als ihre Ohren unvermittelt ein anderes Geräusch registrierten. Etwas, das mit dem Wasser nur bedingt zu tun hatte.
Ein Quietschen wie von einer schweren Tür.
Dann Stiefel auf hartem Untergrund.
Wasser, das wegspritzt, als die Stiefel sich ihren Weg bahnen. Auf sie zu. Und …
Jo hatte das Gefühl, ihr Herzschlag setze aus. Ja, und Stimmen!
Ein Mann. Jung.
»Sie hatten recht, hier ist etwas!«
Gleich darauf nahmen Jos geschärfte Sinne ein Knirschen war. Ein Funkgerät. Und eine Antwort.
»Ja, soweit ich sehen kann, handelt es sich um eine Transportbox. Recht groß.«
Knacken. Antwort.
»Alles klar. Ich warte.«
Jo holte tief Luft und schrie. Und dieses Mal erzielte sie auch ein Ergebnis. Der Mann, den sie hörte, geriet hörbar in Aufregung.
»Ich kann sie hören! Verdammt noch mal, sie ist hier!«
Zugleich neue Schritte. Wasser, das von einer ganzen Reihe von Menschen durchpflügt wurde. Menschen, die rannten.
Jo hörte ihr eigenes Stöhnen, als zwei Beamte der Sondereinheit die Kiste, in der sie gefangen war, auf die Seite drehten und öffneten. Die Dunkelheit wich einem strahlenden Licht, das blau und unruhig flackerte wie der Widerschein eines Fernsehers. Und dann, nachdem sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah Jo auch ein Gesicht.
Während helfende Hände sie vorsichtig befreiten und ihr geschundener Körper vor neu erwachendem Schmerz wild rebellierte, verzog sie die Lippen zu einem Lächeln, das angesichts der Situation reichlich schief geriet. »Heller, nicht wahr?«
Das Gesicht lächelte auch. »Hallo, Jo, schön, Sie zu sehen.«
14
Merle Olsen befestigte den Saugnapf für die Halterung des Navigationssystems an der Windschutzscheibe ihres BMWs und schaltete das Gerät ein. Während sie entnervt darauf wartete, dass die Begrüßungsmaske endlich
verschwand, kam ihr der Gedanke, dass Irina Portner möglicherweise gar nicht zu Hause war. Vielleicht war sie gleich nach dem Begräbnis verreist, geflohen vor den Gerüchten, die seit dem Artikel über sie und ihren Mann im Umlauf waren. Oder vor ihren Erinnerungen. Vor dem Haus, in dem sie zum Opfer geworden war und in dem sie sich nicht länger sicher fühlte.
Es mag seltsam klingen, dachte Merle bei sich, aber ich fühle mich zu Hause nach wie vor wohl …
Das allein ist doch schon der Beweis dafür, dass du anders tickst als andere Menschen , meldete sich eine unbequeme kleine Stimme in ihrem Kopf. Es zeigt, dass Kira recht hat. Dass du völlig danebenliegst. Vielleicht solltest du tatsächlich endlich Ruhe geben. Deine irrwitzige Jagd auf diesen Scheißkerl abbrechen und mit der Aufarbeitung beginnen.
Sie ließ den Kopf gegen die harte Kopfstütze sinken. Seit dem Begräbnis kämpfte sie nun mit sich und ihrem Selbstverständnis, und so sicher sie bislang gewesen war in dem, was sie tat, so groß waren auf einmal ihre Zweifel. Mehr noch, sie hatte beinahe das Gefühl, dass sie drauf und dran war, sich und andere
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