Hitzschlag: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
einfach das Essen vergessen und sei verhungert. Andere Stimmen sprachen von einem nächtlichen Sturz, einem tragischen Unglücksfall, infolgedessen Igor Kashurin nur zweihundert Meter von seinem Haus entfernt am Straßenrand erfroren sei. Vor diesem Hintergrund
könnte man eigentlich denken, dass Irina Portner mit ihrer Heirat das große Los gezogen hat, dachte Winnie Heller, als sie wenig später das St. Josephs-Hospital betrat. Anstatt in einer lauten Zweizimmerwohnung im rauen Moskauer Norden abwechselnd ihrem Ehemann, ihren fünf Kindern und diversen Freiern zu Diensten zu sein, sitzt sie in einer dreihundertsechzig Quadratmeter großen Villa und hat die Wahl, ob sie sich die Zeit zwischen Friseur und Oper lieber mit Golf oder Tennis vertreiben will.
So zumindest sah es auf den ersten Blick aus.
Doch Winnie Heller misstraute ersten Blicken.
Sie fuhr mit dem Aufzug in die sechste Etage und informierte die Stationsleitung und die beiden Uniformierten, die auf dem Gang vor Irina Portners Zimmer Wache hielten, über ihre Absichten. Von der behandelnden Ärztin erfuhr sie, dass genetisches Material des Angreifers sichergestellt worden war. Die betreffenden Proben seien bereits auf dem Weg ins Labor.
Winnie Heller fragte die Medizinerin auch nach der Schwere der Verletzungen, die Jan Portners Witwe davongetragen hatte, und erhielt eine etwas eigenartige Antwort:
»Nun ja, das ist so ein Punkt, wissen Sie«, sagte die Ärztin nach langem Zögern. »Frau Portner ist zweifelsohne vergewaltigt worden, und – um das ganz klar zu sagen – wir sprechen hier sowohl von vaginaler als auch von analer Penetration inklusive der entsprechenden einschlägigen Befunde. Dennoch scheint mir die Schwere der Verletzungen nicht so gravierend zu sein, wie man es eigentlich erwarten müsste, wenn man die Zusammenhänge kennt.«
Winnie Heller sah sie an. »Mit Zusammenhängen meinen Sie die Tatsache, dass sein letztes Opfer nach wie vor im Koma liegt?«
»Nicht nur das«, antwortete die Ärztin. »Ich habe auch zwei der anderen Opfer untersucht. Und in beiden Fällen waren
die – wenn Sie mir den Ausdruck verzeihen – Kollateralschäden weitaus größer.«
»Das heißt im Klartext?«
Auf dem Gesicht der Ärztin erschien ein Ausdruck von Ekel. »Dieser Typ ist so ziemlich das Perverseste, was mir in meiner bisherigen Laufbahn untergekommen ist. Und nach allem, was ich über die Sache weiß, wird es von Mal zu Mal schlimmer.«
Genau dasselbe hat Wieczorek auch gemeint, dachte Winnie Heller.
»Kurz gesagt: Er scheint großen Spaß daran zu haben, seinen bewusstlosen Opfern die Rippen zu brechen oder ihnen die Gesichter zu Brei zu schlagen.«
»Aber in Irina Portners Fall hat er das nicht getan?«
»Oh, er hat sie natürlich verprügelt«, widersprach die Ärztin. »Und er war auch nicht gerade zimperlich mit ihr. Das bestimmt nicht. Aber …«
»Ja?«
»Nun ja, vielleicht ist er in diesem Fall einfach nicht so weit gekommen wie sonst.« In der warmen Stimme schwang ein Hauch von Zweifel. »Vielleicht hat sie einfach Glück gehabt, dass ihr Mann zum richtigen Zeitpunkt nach Hause kam.«
Das mit dem richtigen Zeitpunkt würde Jan Portner vermutlich ein wenig anders sehen, dachte Winnie Heller.
Sie dankte der Ärztin und ging den Gang hinunter, zu dem Zimmer mit der Nummer 607.
Auf ihr Klopfen antwortete ein leises »Ja?«, kaum zu hören.
Sie machen das schon …
Winnie Heller drückte auf die Klinke. Der dahinterliegende Raum war vollkommen quadratisch und roch genau wie alle anderen Krankenzimmer, in denen sie in ihrem Leben gewesen war: eine befremdliche Mischung aus Desinfektionsmitteln, verwelkten Blumen und Angst.
Die junge Russin hockte mit angezogenen Beinen auf dem
Bett, und trotz des unvorteilhaften Neonlichts sah man auch jetzt, dass sie schön war. Sogar noch schöner als auf der Fotografie in ihrem Schlafzimmer. Bis auf eine böse Platzwunde unterhalb des rechten Auges, die geklammert worden war, wirkte sie unverletzt. Unter dem hellblauen Krankenhauskittel schimmerte ihre glatte weiße Haut wie Elfenbein.
Winnie Heller ärgerte sich, dass sie nicht gefragt hatte, wie alt sie war. »Es tut mir furchtbar leid, dass ich Sie so kurz nach einem solchen Erlebnis schon mit Fragen behelligen muss«, begann sie ein wenig sperrig. »Aber wir dürfen keine Zeit verlieren, wenn wir den Kerl, der Ihnen das angetan hat, kriegen wollen.«
Irina Portner sah sie an. Sie hatte sehr außergewöhnliche
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