Hitzschlag: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
zählte. Bei elf hob er den Kopf und entdeckte die Rücklichter des Golfs etwa auf Höhe des Tuareg. Er war nicht direkt beunruhigt, was diesen Wagen anging. Das wäre zu viel gesagt. Aber er verstand durchaus, dass er die Verunsicherung, die sein Auftauchen mit sich gebracht hatte, als Stichwort aufzufassen hatte. Als imaginären Startschuss, der ihn darauf hinwies, dass es jetzt losging. Dass er nicht länger fackeln durfte. Dass es an der Zeit war.
Er schenkte dem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen letzten, flüchtigen Blick. Dann ließ er den Wagen an und machte sich auf den Weg zu der Adresse auf seinem Zettel.
2
Irina Portner trat auf die Terrasse ihrer Villa in der Danziger Straße und blickte in den parkartig angelegten Garten hinunter. Seit Stunden wartete sie nun schon darauf, dass es endlich kühler wurde, doch die Hitze gab keinen Millimeter nach. Die bleierne Luft war erfüllt von Geräuschen, dem Zirpen von Grillen, Autolärm und dem Knistern trockener Blätter, die sich – ausgedörrt von der Sonne – viel zu früh von den Zweigen gelöst hatten. Ein Anklang von Herbst, mitten im heißesten Sommer seit Jahrzehnten.
Irgendwie gespenstisch, dachte Irina und sah hinauf in den bleichen Abendhimmel über der Stadt. Ein mattes Anthrazit, das nach Endzeit aussah und in dem nur hier und da eine trübe Ahnung von Stern dämmerte.
Die sogenannte kalte Jahreszeit war ihr von jeher lieber, vor allem die klirrend klaren Winter ihrer Heimat, die selbst noch den hartnäckigsten Moskowiter Smog in die Knie zwangen und den Blick freigaben auf das kristallene Firmament hoch über der russischen Hauptstadt. Fast so, als reibe man eine beschlagene Scheibe wieder blank. Irina schlang sich schützend die Arme um den Körper und dachte an die Nächte, in denen sie in ihrem abgetragenen Daunenmantel am weit geöffneten Küchenfenster gestanden und ihrem Atem nachgeblickt hatte, während ihre Mutter im Nebenraum mit irgendeinem Freier zugange gewesen war. Wie alt mochte sie da gewesen sein? Acht vielleicht? Oder doch schon älter? Sie überlegte eine Weile, kam jedoch zu keinem Ergebnis. In ihrer Erinnerung war ihre Kindheit eine Ansammlung von Bildern ohne jede Struktur. Zumindest was die zeitlichen Abläufe betraf. Aber das mochte auch daran liegen, dass ihre Tage im Wesentlichen alle gleich verlaufen waren. Ein nie enden wollender Kampf ums Überleben inmitten der lebensfeindlichen Betonwelt einer Trabantenstadt im Norden Moskaus.
Aber so eintönig ihr Kinderleben auch verlaufen war, an den Winter und seinen tröstlich-reinen Geruch erinnerte sie
sich genau. An den Geruch und an ihre rotgefrorenen Wangen. Sie hatte ihrem Atem nachgesehen, wie er aufgestiegen war, weiß und frei, und sie hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als ihm zu folgen. Einfach in die Nacht davonzufliegen. Irgendwohin, wo es menschenleer und still war.
Und dann war ihre Mutter gekommen und hatte sie verprügelt. Sag mal, bist du eigentlich noch ganz bei Trost?! Da sind ja schon Eiszapfen in der Gardine. Hast du auch nur die leiseste Ahnung, was die Energie kostet, die nötig ist, um es hier warm zu haben? Und was ich dafür tun muss, das Geld dafür aufzubringen?
Irinas Augen krallten sich in den fahlen Rasen unterhalb der Terrasse, der täglich gesprengt wurde und trotzdem irgendwie krank aussah. Die Büsche ringsum waren frisch beschnitten und schienen zu hecheln, während die alte Hitze, die sich über Tag angestaut hatte, sie aufs Neue attackierte. Selbst Hitze, dachte Irina, fühlt sich hier im Rheingau grundlegend anders an als zu Hause in Moskau. Dabei sprachen die Meteorologen ausdrücklich von einem »Russen-Hoch«. Sie schüttelte ungläubig den Kopf und betrachtete einen sorgfältig gestutzten Rosenbusch, der nicht eine einzige Blüte trug. Rechts dahinter führte ein mit sündhaft teuren Solarlampen beleuchteter Pfad in kühnen Schwüngen auf jenes Gebäude zu, das ihr Mann je nach Laune als »Pavillon« oder »Laube« bezeichnete und das in Wirklichkeit ein hochmodern ausgestattetes Gästehaus war.
Ein Gästehaus für Gäste, die nie kamen …
Es bestand aus zwei versetzten Quadern – genau wie das Wohnhaus, das Jan mit der für ihn typischen Mischung aus Selbstbewusstsein und Größenwahn mitten zwischen die altehrwürdigen Villen ringsum hatte setzen lassen – und verfügte über eine eigene, rund vierzig Quadratmeter große Terrasse, die
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