HMJ06 - Das Ritual
diesem Fall kannst du alle Möglichkeiten durchgehen. Schlimmstenfalls wären es zehn.«
»Und wenn er in der Mitte eine Zahl weggelassen hat? Wie viele Versuche hätte ich dann?«
»Millionen.«
»Na super.«
Jack fragte sich, ob die fehlende Ziffer tatsächlich auf ein Versehen zurückzuführen war. Vielleicht hatte Edward gar nicht gewollt, dass Jack sich mit ihm in Verbindung setzte. Vielleicht hatte er von Anfang an geplant, sich in Luft aufzulösen. Wenn ja, könnte Jack die zweite Hälfte seines Honorars abschreiben.
Nur sehr wenige seiner Kunden hatten versucht, ihn übers Ohr zu hauen, und keinem war es bisher gelungen. Edward wäre vielleicht der Erste.
Abe deutete auf Jacks Mobiltelefon. »Wie funktioniert dein neues Tracfone?«
»Bis jetzt ganz gut. Scheint wirklich unaufspürbar zu sein, bei meinem Job ein entscheidender Vorteil.«
Jack hatte es in seiner Radio-Shack-Filiale zusammen mit einer Prepaid-Karte gekauft. Aktiviert hatte er sein Telefon von einem Computerterminal in der Public Library aus, ohne seinen Namen, seine Adresse oder Kreditkartennummer anzugeben. Die Gesprächsgebühren waren höher, als wenn er sich bei Verizon oder einem anderen Provider angemeldet hätte, doch dort musste man Verträge unterschreiben und sich eine Überprüfung seiner Bankverbindungen gefallen lassen. Für Jack war die Anonymität, die ihm das Tracfone bot, praktisch unbezahlbar.
»Ich sollte mir auch eins besorgen. Falls ich dich mal anrufen muss. Du hast mir deine Nummer doch gegeben, oder?«
»Du, Julio, und Gia kennen sie, und das reicht.«
Jack hatte eine Idee, während er sein Brötchen aufaß. Er griff nach seinem Telefon.
»Weißt du, vielleicht brauche ich gar nicht millionenmal zu telefonieren, um Edward Bellitto ausfindig zu machen. Ich könnte einfach seinen Bruder Eli fragen.«
»Meinst du, er spricht mit dir?«
»Ein Versuch kann nicht schaden.«
Nachdem die Auskunft ihm die Nummer der Zentrale des St. Vincent Hospitals genannt hatte, rief Jack dort an und ließ sich mit Eli Bellittos Zimmer verbinden.
Eine heisere Stimme meldete sich. »Hallo?«
»Mr. Bellitto? Hier spricht Lorenzo Fullerton aus der Buchhaltung des St. Vincent. Wie geht es Ihnen heute Morgen?«
Abe hob die Augenbrauen, rieb sich den Schädel und flüsterte lautlos: »Lorenzo Fullerton?«
Jack zuckte die Achseln. Es war ein Name, den er sich schon vor einigen Jahren ausgedacht hatte und den er immer benutzte, wenn er so tun musste, als wäre er eine Amtsperson.
»Was wollen Sie?« Die Stimme klang schwach und heiser.
Das war gut. Er hatte Schmerzen. Jack hoffte es inständig.
»Ihr Aufnahmeformular ist nicht ganz in Ordnung. Wir können nirgendwo den Namen und die Adresse Ihres Bruders Edward finden. Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie diesen Punkt für uns klären würden.«
»Bruder? Ich habe weder einen Bruder namens Edward noch irgendeinen anderen. Ich bin Einzelkind gewesen.«
3
Eli Bellitto knallte den Telefonhörer auf die Gabel. Die heftige Bewegung jagte einen schneidenden Schmerz durch seinen dick verbundenen Unterleib. Er stöhnte und sah seinen Arzt an.
»In Ihrer Verwaltung sitzt offensichtlich ein Haufen Idioten.«
Dr. Najam Sadiq lächelte. »Dem will ich nicht widersprechen«, sagte er in akzentfreiem Englisch.
Dr. Sadiq hatte im St. Vincent’s Spätdienst gehabt, als Eli in der Notaufnahme erschienen war. Da er der gerade verfügbare Urologe war, war ihm Eli als Patient zugeteilt worden.
Eli versuchte, seine Lage im Bett zu verändern, wodurch ein weiteres Schmerzfeuerwerk gezündet wurde. Er schielte zu dem Morphiumtropf am Ständer neben seinem Bett. Eine PCA-Pumpe, wie die Schwester erklärt hatte. Patient Controlled Analgesy. Der Patient verabreichte sich das Medikament immer selbst. Ein Knopf, der am Bettgestell befestigt war, gestattete ihm, die Dosis selbst zu bestimmen – innerhalb vertretbarer Grenzen. Doch er hatte bisher darauf verzichtet, weil das Medikament seinen Geist benebelte und er befürchtete, etwas Falsches zu sagen. Allerdings glaubte er, so nicht mehr lange durchhalten zu können.
Wenigstens war er am Vorabend noch so klar gewesen, ein Einzelzimmer zu verlangen. Ihm war egal, wie viel es kostete. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, war ein neugieriger Mitpatient.
»Wie ich schon angedeutet habe«, sagte Dr. Sadiq, »Sie haben Glück gehabt, Mr. Bellitto. Sehr viel Glück. Wenn die Messerklinge nur einen Zentimeter weiter nach links gerutscht
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