HMJ06 - Das Ritual
»Suchen Sie diese geschwätzige Frau, und erteilen Sie ihr eine Lektion.«
»Ich finde, Sie reagieren zu heftig, Eli«, stellte Strauss fest.
»Sie haben gut reden!«, zischte Eli. Er hätte am liebsten gebrüllt, war aber vernünftig genug, die Stimme nicht zu erheben. »Sie haben keine Messerwunde oder eine Gehirnerschütterung.«
»Wenn Sie diese Frau finden, werden Sie sich auch nicht viel besser fühlen.«
»Oh, das werde ich doch! Das kann ich Ihnen garantieren, das werde ich!«
Eli war sich sehr wohl bewusst, dass er völlig überreagierte, aber er war verwundet worden, und er hatte Schmerzen, und Strauss hatte ihm kein Ziel für eine mögliche Revanche liefern können und ihm wenig Hoffnung gemacht, dass er damit in naher Zukunft würde aufwarten können. Diese Frau zu suchen und fertig zu machen, wäre ein dringend benötigtes Ventil für seine aufgestaute, bislang ohnmächtige Wut.
»Wie soll ich sie finden? Sie hat kein Verbrechen begangen.«
»Setzen Sie sich mit Gregson in Verbindung.«
»Gregson ist bei der NBC. Die Reportage kam von …«
»Gregson wird wissen, was zu tun ist.« Eli hatte das Gefühl, als würde er jeden Augenblick vor Wut explodieren. Musste er Strauss an die Hand nehmen und ihm Schritt für Schritt zeigen, wie er vorgehen sollte? Musste er denn wirklich alles selbst tun? »Wenn Sie den Namen unseres Angreifers nicht ausfindig machen können, dann besorgen Sie mir wenigstens den Namen dieser Frau! Tun Sie endlich etwas, verdammt noch mal!«
13
Charlie klappte die Bibel zu. Er hatte die Stelle über das Tau-Kreuz in Ezechiel 9,4 lesen wollen, doch es tat sich nichts. Sobald die Worte in sein Gehirn eindrangen, verwirrten sie sich.
Vielleicht lag es an der Musik. Der hektische Rhythmus von »Begin With Me« von Point of Grace pumpte aus seinen Kopfhörern. Kein schlechter Text, aber das Hochglanzarrangement und der schräge Gesang hatten eine ablenkende Wirkung. Er holte die CD aus dem Player und legte dafür »Spirit Of The Century« von den Blind Boys Of Alabama ein. Während ihr eher traditioneller Harmoniegesang seine aufgewühlten Gedanken beruhigte, ließ er sich nach hinten auf das Bett sinken, schloss die Augen und betete um Frieden.
Aber er fand heute keinen Frieden. Immer wieder sah er seinen Bruder in dem Blutsee gegen das Ertrinken ankämpfen, hörte Jacks Stimme, wie er von der Andersheit erzählte …
Wo war Jesus bei all dem? Warum geschah das alles?
Charlie hielt das Ganze für einen Test, eine Prüfung. Aber was sollte geprüft werden?
Mein Glaube?
Er wusste, dass sein Glaube stark war. Kraftvoll. So mächtig, dass er sich fragte, wie er die Jahre vor seiner Wiedergeburt ohne ihn hatte auskommen können. Er war jetzt wie die Luft zum Atmen für ihn. Wenn jemand ihm den Glauben nehmen würde, wäre er innerhalb kürzester Zeit tot, das wusste er genau.
Aber wo steht, dass ich das Objekt dieser Prüfung bin? Vielleicht gilt das alles Lyle … eine Prüfung seines Glaubens an nichts.
Denn genauso fest, wie Charlie an die segensreiche, heilende Liebe von Jesus Christus glaubte, glaubte Lyle an nichts, was er nicht mit seinen fünf Sinnen wahrnehmen konnte. Vielleicht bot Gott Lyle eine Chance zu erkennen, dass es im Leben mehr gab, als man mit seinen Sinnen wahrnehmen konnte, dass Leben über den Körper hinausreichte, dass jeder menschliche Körper eine ewig lebende Seele beherbergte, die sich dereinst vor einem Richter würde verantworten müssen, wenn ihr Leben auf der Erde beendet wäre. Vielleicht ist das Lyles Chance, sich zu ändern, Jesus als seinen persönlichen Retter anzunehmen und seinen Namen im Buch des Lebens aufgeschrieben zu sehen.
Aber … wenn dies alles das Werk Gottes war, warum versteckte er sich dann? Warum verschleierte er sein Wirken?
Weil er es so wünscht.
Fang ja nicht an, an Gott zu zweifeln, ermahnte sich Charlie.
Aber wie passten Jack und Gia in dieses Puzzle? Es war ziemlich offensichtlich, dass keiner der beiden zu den geretteten Seelen gehörte. Gia glaubte an Jack, an was aber sonst noch?
Und Jack? Er ist ein Rätsel. Was er neulich von Wert gegen Wert gesagt hatte, hatte Charlie bis jetzt nicht aus dem Kopf gehen wollen. Das war schon richtig. So sollten die Dinge sein, doch so waren sie nicht …, vor allem nicht, wenn man sich ansah, wie er und Lyle sich bisher ihren Lebensunterhalt verdient hatten.
Jack schien nicht so erdgebunden zu sein wie Lyle, doch sein Gerede von der Andersheit und der
Weitere Kostenlose Bücher