HMJ06 - Das Ritual
zuteil werden musste, schritt er durch den Korridor. Ein wilder Aufruhr tobte in ihm. Er hatte das Unbehagen die ganze Zeit über verbergen können, doch es erfüllte ihn zunehmend. Sein Heim war keine sichere Zuflucht mehr, sondern ein Minenfeld bedrohlicher Möglichkeiten. Die Ereignisse des Tages hatten ihn völlig aus dem Konzept gebracht und nervös gemacht, aber sie hatten ihn auch erschöpft. Dennoch war für ihn der Gedanke, sich jetzt hinzulegen und die Augen zu schließen, schlichtweg unvorstellbar.
Zumindest in diesem Haus. Eine Nacht in einem Motel wäre die ideale Lösung – dort bekam er solide acht Stunden Schlaf und könnte am Morgen in sein Haus zurückkehren, erfrischt und bereit, sich allem zu stellen, was dort auf ihn warten mochte.
Doch er würde sein Haus nicht verlassen.
Lyle warf einen Blick auf seinen Wecker, als er sein Schlafzimmer betrat. Er stand auf 3.22 Uhr. Und zählte noch immer rückwärts. Die echte Zeit lag etwa bei 22.30 Uhr. Lyle stellte fest, dass er mehr als nur erschöpft war. Er fühlte sich nicht wohl. Er hoffte, dass das Blut im Keller nicht irgendwie vergiftet gewesen war … Blut war heutzutage ein Überträger aller möglichen Krankheiten. Aber andererseits war es kein richtiges Blut gewesen, oder? Irgendeine Art übersinnliches oder ektoplasmisches Blut …
Hör dir das an, dachte Lyle. Ich klinge, als hätte ich meinem eigenen Quatsch schon so lange zugehört, dass ich anfange, ihn selbst zu glauben.
Aber das, was am Nachmittag passiert war, konnte kaum als Quatsch bezeichnet werden. Das war der reinste Knaller gewesen, wie Charlie so gerne sagte.
Er rieb sein Gesicht. Als sie nach dem Essen nach Hause gekommen waren, hatte er sofort noch einmal geduscht. Trotzdem hatte er nicht das Gefühl, das Blut nach seinem Horrorbad im Keller komplett abgewaschen zu haben. Es schien, als wäre es in seine Haut eingesickert – nein, durch seine Haut und direkt in seinen eigenen Blutkreislauf. Irgendwie fühlte er sich verändert.
Verändert hatte sich nach den letzten Tagen ganz sicher sein Blickwinkel. Alles Helle diente jetzt nur noch dazu, die schon vorhandenen Schatten noch dunkler zu machen. Also versuchte man, ihnen auszuweichen, sie zu umgehen. Das Problem war nur, dass eine ganze Menge Schatten hinzugekommen waren. Daher war jede Menge Ausweichen angesagt. Wenn das erst mal überhand nahm, verlor man seinen Weg völlig aus den Augen und tat nichts anderes, als Schatten zu meiden.
Sich in einer Situation zu befinden, in der man befürchten musste, dass man nur noch wenige Minuten zu leben hatte, veränderte einen nachhaltig. Lyle war überzeugt gewesen, er würde an diesem Nachmittag im Blutsee ertrinken. Doch er war aus diesem roten Taufbad mit einer ganz neuen Wertschätzung seines Lebens und der Entschlossenheit aufgetaucht, aus allem, was er besaß und was sich ihm bot, das meiste herauszuholen.
Und was er im Augenblick besaß, das war ein Geist, ein Gespenst.
Eine einzige große Ironie, wenn er darüber nachdachte: Ein eingefleischter Skeptiker, der seinen Lebensunterhalt damit verdient, die Existenz von Geistern vorzutäuschen, muss zu der Erkenntnis gelangen, dass er in einem Spukhaus lebt. Das war der Stoff, aus dem Oscar-trächtige Filme gedreht wurden.
Aber Tatsache war, dass er das Haus gerade wegen seiner morbiden Vorgeschichte ausgesucht hatte. Wenn daher irgendein Anwesen eine mehr als durchschnittliche Chance bieten sollte, Schauplatz eines Spuks zu sein, dann war es das Menelaus Manor.
Daher … Wie holen wir das meiste aus dieser Situation heraus? Wenn dieser Geist eine Zitrone ist, wie können wir dann, wie es so schön heißt, daraus Zitronenlimonade zubereiten?
Die auf der Hand liegende Antwort war Lyle im Restaurant eingefallen. Wenn diese Erscheinungen tatsächlich das Werk des Geistes eines Mädchens waren, das ermordet und in dem Haus begraben worden war, und wenn die Kleine ihnen etwas mitzuteilen versuchte, das ihren Mörder einer strafenden Gerechtigkeit zuführen würde, oder wenn sie ihnen ihren Beerdigungsort zeigen wollte, damit man mit gerichtsmedizinischen Methoden ihren Mörder entlarven könnte, dann hatte sie in Lyle Kenton einen willfährigen – nein, einen zu allem entschlossenen Verbündeten.
Nicht nur, weil eine Befriedigung ihrer Wünsche und Bedürfnisse die gute Chance bot, dass sie dorthin zurückkehrte, wo immer sie hergekommen war, und das Haus in Zukunft in Ruhe lassen würde …
… aber man stelle sich nur
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