HMJ06 - Das Ritual
okay«, sagte Lyle, sowohl um Melba wie auch seinen Bruder zu beruhigen.
Doch er war alles andere als okay.
Was war gerade geschehen? War das real? Hatte er tatsächlich Clarence Toomey gesehen, oder hatte er es sich nur eingebildet? Es war ihm so echt vorgekommen, und dennoch … das war nicht möglich.
So etwas war ihm noch nie zuvor passiert. Er wusste nicht, wie er sich das erklären sollte.
»Ifasen?«, fragte Melba. »Was ist passiert? Wissen Sie etwas? Haben Sie Clarence gesehen?«
Was konnte er darauf antworten? Selbst wenn er sich hätte sicher sein können, dass es zutraf – und das war er ganz und gar nicht –, wie erklärte man einer Frau, dass ihr Ehemann in Las Vegas mit einer Nutte im Bett lag?
»Ich weiß nicht genau, was ich gesehen habe«, sagte Lyle. Mehr konnte und wollte er nicht verraten. Er rückte vom Tisch zurück. »Ich fürchte, ich muss unsere Sitzung vorzeitig abbrechen. Ich … ich fühle mich nicht gut.« Keine Lüge. Er fühlte sich ganz entsetzlich.
»Nein, bitte«, flehte Melba.
»Es tut mir Leid. Ich gebe Ihnen Ihr Geld zurück.«
»Klasse, Mann!«, sagte Charlie in seinem Ohr.
»Das Geld ist mir nicht wichtig«, sagte Melba. »Ich will meinen Clarence. Wie finde ich ihn?«
»Die Lotterie«, sagte Lyle.
Sie starrte ihn an. »Die Lotterie? Das verstehe ich nicht.«
»Ich auch nicht, aber das war die Botschaft, die am deutlichsten durchkam. Fragen Sie bei der New York State Lottery nach. Fragen Sie nach Clarence. Das ist alles, was ich Ihnen mitteilen kann.«
Wenn sie das tat und wenn Lyles Vision zutraf – ein großes Wenn –, würde sie von Clarences großem Gewinn erfahren. Sie könnte dann jemanden engagieren, der ihn ausfindig machte, und vielleicht sogar etwas von dem erhalten, was noch übrig war.
Sie wollte ihren Mann wiederfinden, doch wenn ihre Suche Erfolg hätte, würde sie einige traurige Erfahrungen machen.
Charlie erschien. Er sah ihn seltsam an. Ihm mussten eine ganze Million Fragen auf der Zunge liegen, doch er konnte sie nicht stellen, solange Melba noch da war.
Lyle sagte: »Kehinde wird Sie hinausbringen und Ihnen Ihr Geld auszahlen. Und denken Sie an das, was ich Ihnen geraten habe: Fragen Sie bei der Lotterie nach. Tun Sie es heute noch.«
Melba schüttelte ratlos den Kopf. »Ich verstehe das alles nicht, aber wenigstens haben Sie versucht, mir zu helfen. Das ist mehr, als die Polizei getan hat.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Vielen Dank.«
Lyle ergriff ihre Hand und musste einen heftigen Seufzer unterdrücken, als ein ganzer Wirbelsturm von Empfindungen auf ihn einstürzte – eine kurze Zeitspanne des Zorns, dann Trauer, Einsamkeit, etwa für die Dauer von anderthalb Jahren. Vielleicht war es ein wenig mehr, aber ganz sicher weniger als zwei Jahre, und dann Dunkelheit – eine von Sehnsucht geprägte Dunkelheit, die Melba und alles um sie herum verschlang.
Er zog seine Hand ruckartig zurück, als hätte er einen elektrischen Schlag erhalten. War das Melbas Zukunft? War das alles, was ihr noch blieb? Weniger als zwei Jahre?
»Auf Wiedersehen«, sagte er und zog sich zurück.
Charlie geleitete sie ins Wartezimmer und warf Lyle über die Schulter einen irritierten Blick zu.
»Ifasen ist heute nicht ganz wohlauf«, erklärte er Melba.
Verdammt richtig, ich bin nicht wohlauf, dachte Lyle, während sich ein tiefes Unbehagen in ihm ausbreitete. Was zum Teufel ist mit mir los?
4
Jack bringt mich um, wenn er es erfährt.
Gia stand vor der ramponierten Wohnungstür und zögerte. Gegen ihr besseres Wissen war sie zu der Website von abduc-tedchild.org zurückgekehrt und hatte die Telefonnummer der Familie von Tara Portman angerufen. Sie hatte den Mann, der sich meldete, gefragt, ob er mit Tara Portman verwandt sei – er erwiderte, er sei ihr Vater –, und hatte ihm erklärt, sie sei Journalistin und arbeite auf freier Basis für eine Reihe von Zeitungen. Sie plane gerade eine Artikelserie über Kinder, die seit mehr als zehn Jahren als vermisst gälten. Ob er ein wenig Zeit erübrigen könne, sich mit ihr zu unterhalten.
Seine Antwort – Sicher, warum nicht? – hatte fast gleichgültig geklungen. Er meinte, sie könne jederzeit vorbeikommen, denn er sei fast immer da.
Daher stand sie jetzt im heißen Flur des dritten Stocks eines heruntergekommenen Apartmenthauses in den West-Forties und hatte Angst, den nächsten Schritt zu tun. Sie hatte sich für ein schlichtes dunkelblaues Kostüm entschieden, das sie
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