HMJ06 - Das Ritual
Sie das wollen?« Jack wusste, dass er nicht wünschte, dass irgendjemand in seine Zukunft schaute. Und wenn sie schon mal dabei waren, konnten sie sich auch aus seiner Vergangenheit und seiner Gegenwart heraushalten.
»An dem, was Sie sagen, ist was dran.« Lyle kam aus eigener Kraft auf die Füße. Er machte einen unsicheren Schritt, als er vollends stand. »Mann.« Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht sollten wir für heute lieber Feierabend machen.«
»Wahrscheinlich die beste Idee«, sagte Jack. »Wir haben in der ganzen verdammten Wand nicht einen einzigen losen Stein gefunden. Das heißt, dass wir morgen mit dem Boden anfangen. Wahrscheinlich hätten wir das ohnehin als Erstes tun sollen.«
Lyle nickte. »Ja. Wenn Dimitri in das Verschwinden von Tara Portman und weiteren vermissten Kindern verwickelt war, dann kann ich mir eigentlich nur einen Grund denken, weshalb in all den Jahren der Boden im Keller aus nacktem Erdreich bestanden hatte.«
Jack ging zur Öffnung im Boden und untersuchte den Rand der Zementplatte.
»Das dürfte nicht allzu schwierig werden. Der Zement ist nicht mehr als fünf Zentimeter dick. Man könnte sich einfach einen Presslufthammer mieten und kurzen Prozess machen.«
Lyle schüttelte den Kopf. »Lieber nicht, wenn ich es irgendwie vermeiden kann. Das macht zu viel Lärm. Und ich möchte mit dieser Aktion möglichst kein Aufsehen erregen.«
Jack warf ihm einen schnellen Blick zu. »Noch nicht, zumindest.«
Ein knappes Lächeln. »Richtig. Noch nicht. Was dagegen, wenn wir es erst mal mit Handarbeit versuchen?«
»Überhaupt nicht. Wenn Sie die Sache morgen in Angriff nehmen, bin ich dabei.«
»Ich bin bereit. Aber nur bis zum späten Nachmittag. Ich halte morgen eine Rede vor einem Damenclub in Forest Hills.«
Er hob einen kleinen Finger und schürzte die Lippen. »Ich soll die Ladys aufs Dinner einstimmen, wissen Sie.«
»Sie hoffen wohl, Ihren Kundenkreis zu erweitern, nicht wahr?«
Lyle seufzte. »Ja. Das war die Absicht, als ich den Auftritt arrangierte.« Er sah seinen Bruder an. »Jetzt hingegen glaube ich, dass ich meine Zeit vergeude.« Er gab sich einen Ruck und hob den Kopf, als er Jack ansah, doch es schien ihn einige Mühe zu kosten. »Wie dem auch sei, ich sage für morgen alle Sitzungen ab, und wir fangen schon in aller Frühe an. Auch wenn wir keinen Erfolg haben sollten, ein wenig körperliche Betätigung dürfte ganz gut tun.«
Eine Fitnessübung … Richtig. Ganz gut wäre es, aber natürlich alles andere als angenehm, wenn sie Tara Portmans sterbliche Überreste fänden und anständig begraben könnten. Vielleicht würde Gia dann das kleine Mädchen aus ihrem Bewusstsein streichen. Und Jack könnte endlich in Erfahrung bringen, was das alles zu bedeuten hatte und weshalb ausgerechnet er in diese Geschichte verwickelt war.
Vielleicht.
14
Jack marschierte mit forschen Schritten durch die Ditmars in Richtung U-Bahn und passierte dabei eine bunte Vielfalt von Folkloreläden in dreistöckigen Apartmenthäusern aus grauem Mauerwerk. Die Rushhour war in vollem Gange. Auf den Bürgersteigen herrschte dichtes Menschengewimmel, und für den Autoverkehr hieß es Stop-and-go. Er bog in die Thirty-first Street ein und näherte sich der Treppe, über die man den Hochbahnhof der Linie N erreichte, die an dieser Stelle auf Stelzen überirdisch geführt wurde, als sein Mobiltelefon piepte. Er angelte es aus seiner Hosentasche und schaltete es an.
»Hey, Schätzchen. Was ist los?«
Aber das war nicht Gia.
»Spreche ich mit Jack?«, fragte eine männliche Stimme mit leichtem Akzent. Sie stieß seinen Namen hervor wie einen Peitschenknall.
Jack blieb sofort stehen. »Wer ist da? Wen wollten Sie anrufen?«
»Ich rufe denjenigen an, der mich am Montagabend umbringen wollte. Könnten Sie das gewesen sein, Jack?«
Bellitto! Wie war er an seine Nummer gelangt? Das passte ihm gar nicht, aber die rasende Wut, die ihn packte, als ihm klar wurde, dass er mit dem Mörder Tara Portmans redete, fegte alle Sorge und Vorsicht hinweg. Er schaute sich um und zog sich in den Eingang eines griechischen Restaurants zurück.
»Eli!«, fauchte Jack. Er spürte, wie sich seine Lippen spannten, als er unwillkürlich die Zähne fletschte – wie ein gereiztes Raubtier. »Wenn ich Sie hätte umbringen wollen, dann würden Sie jetzt aus Ihrem Grab telefonieren. Ich habe Ihre Stimme nicht erkannt. Vielleicht weil Sie, als ich Sie das letzte Mal hörte, gejammert haben wie ein
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