HMJ06 - Das Ritual
bin.«
Das schockte ihn. »Lüge! Du warst im Himmel oder in der Hölle, in einem von beiden! Das musst du wissen!«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich erinnere mich nicht.«
Vielleicht sagte sie die Wahrheit, vielleicht log sie auch, aber Charlie hatte nicht vor, dazubleiben und es herauszufinden. Wenn sie nicht weggehen wollte, dann würde er es tun. Die Kellertreppe hinauf, das war es, was Jesus sagen würde: Halte dich fern vom Bösen. Lass dich auf nichts ein.
Er machte Anstalten, um sie herumzugehen, doch sie löste sich blitzartig auf und erschien gleichzeitig an der Kellertreppe.
»Da darfst nicht weggehen. Noch nicht.«
»Warum nicht?«
»Du könntest einiges verderben.«
Er könnte auf sie zurennen, aber was dann? Könnte er sie umwerfen, aus dem Weg räumen? Wenn sie ein echtes Kind war, dann wäre das kein Problem. Sie brachte sicherlich nicht mehr als fünfunddreißig Kilo auf die Waage. Aber genau das tat sie nicht. Gab es überhaupt etwas, das er würde beiseite schieben können? Oder würde er einfach durch sie hindurchlaufen – oder sie durch ihn? Auf diese Weise wäre sie in ihm. Damit würde er nicht so leicht fertig werden. Und wenn sie sich entschied, für immer so nahe bei ihm zu bleiben?
Charlie erschauerte und machte einen Schritt rückwärts. Dieses kleine Mädchen hatte ihn in seiner Gewalt. Er hätte nicht die geringste Chance gegen sie.
»Was willst du von mir?« Ihm gefiel der Klang seiner Stimme ganz und gar nicht – schrill und fast weinerlich.
Sie sah ihn an. »Von dir? Nichts.«
»Dann …?«
Sie hob eine Hand, und seine Stimme versiegte. Er wollte etwas sagen, brachte aber keinen Laut hervor.
»Sei jetzt still. Ich warte auf jemanden anderen, und ich will nicht, dass du sie vertreibst.«
Und schon erklangen wieder die Stimmen von Point of Grace.
7
Gia hört die Stimmen, kaum dass sie durch die Tür getreten ist. Kinderstimmen, schluchzend … verzweifelte Laute, die ihr das Herz zerreißen. Sie erkennt das Wartezimmer des Menelaus Manor, die Stimmen aber dringen aus dem zweiten Stock zu ihr herab. Sie eilt die Treppe hinauf und kommt in einen langen Flur, der mit Türen gesäumt ist. Insgesamt acht. Die Stimmen sind hier lauter, und ihre Lautstärke nimmt zu, während Gia durch den Flur geht. Bis auf eine stehen alle Türen offen, und während sie daran vorbeigeht, sieht sie jedes Mal ein Kind, einen Jungen oder ein Mädchen, das allein in der Mitte eines leeren Zimmers steht und weint. Einige rufen nach ihren Mamis. Gia hat das Gefühl, ihr zerspringe die Kehle, während sie versucht, die Zimmer zu betreten, um die Kinder zu trösten. Aber sie kann nicht stehen bleiben. Sie muss weitergehen bis zur geschlossenen Tür am Ende des Flurs. Sie verharrt davor, greift nach dem Türknauf, doch ehe sie ihn berührt, fliegt die Tür auf, und da ist Tara Portman, der Vorderteil ihrer Bluse mit Blut getränkt. Sie hat die Augen vor Angst weit aufgerissen und schreit: »Hilfe! Hilfe! Jemand ist verletzt! Du musst herkommen! Komm endlich! JETZT!«
Gia schreckte aus dem Schlaf hoch. Das Wort JETZT! hallte durch ihren Geist. Sie sah sich im dunklen Schlafzimmer um. Durchs Fenster konnte sie erkennen, dass die Sonne untergegangen war und die Dämmerung rasch zunahm.
Bloß ein Nickerchen. Sie hatte in der vergangenen Nacht nicht gut geschlafen. Immer wieder war sie aus allen möglichen Träumen hochgeschreckt, hatte sich aber kaum an irgendwelche Einzelheiten erinnern können, außer dass sie teilweise beängstigend waren. Schwanger zu sein, trug sicherlich zu ihrer allgemeinen Erschöpfung bei. Aber so müde sie sich auch den ganzen Nachmittag über gefühlt hatte, so hatte sie sich trotzdem gegen Jacks Empfehlung gewehrt, ein Schläfchen zu machen, bis sie kaum noch die Augen offen halten konnte. Schließlich hatte sie sich kurz aufs Bett gelegt, nur ein paar Minuten lang … Sie hatte soeben schon wieder einen schlimmen Traum gehabt. Was war darin passiert? Sie schien sich zu erinnern, dass es irgendetwas mit dem Menelaus Manor zu tun gehabt hatte …
Gia sprang auf, als der Traum plötzlich wieder vor ihrem geistigen Auge erschien: Taras vor Grauen verzerrtes Gesicht, während sie schrie, dass jemand schrecklich verletzt würde und dass Gia zu ihr kommen müsste. Jetzt!
»Jack!«
Ein eisiger Schreck fuhr durch ihre Brust, während sie durch das dunkle Haus nach unten in die Küche rannte, wo sie Jacks Handynummer mit einem Magneten an die Kühlschranktür
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