HMJ06 - Das Ritual
geheftet hatte. Sie fand den Zettel, wählte die Nummer und erfuhr von einer mechanischen Stimme, dass er im Augenblick nicht zu erreichen sei. Sie knipste die Küchenbeleuchtung an, ergriff ihre Handtasche und kippte ihren Inhalt auf die Frühstücksbar. Dann wühlte sie in dem Durcheinander herum, bis sie die Ifasen-Broschüre fand, die sie im Menelaus Manor eingesteckt hatte. Sie wählte die dort angegebene Telefonnummer und wartete mehrere Rufzeichen lang, bis sich der Anrufbeantworter der Kentons einschaltete. Dann legte sie auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.
Gia hatte keine Ahnung, ob tatsächlich jemand verletzt war oder ob der Traum ohne Bedeutung war. Doch sie hatte das schreckliche Gefühl, irgendetwas wäre nicht in Ordnung. Was immer der Fall sein mochte, sie konnte unmöglich tatenlos dasitzen. Sie wusste, dass sie versprochen hatte, sich von dem Haus fern zu halten, aber wenn Jack etwas zugestoßen war, dann wollte sie dort sein. Wenn nicht, dann würde sie sich nur kurze Zeit dort aufhalten und wieder nach Hause zurückkehren. Ganz gleich, was sie versprochen hatte, sie würde sich auf den Weg zum Menelaus Manor machen. Und zwar auf der Stelle.
Sie nahm den Telefonhörer wieder ab und bestellte ein Taxi.
8
Indem er einem Impuls, Gia einen kurzen Besuch zu machen, nachgab, verließ Jack den Linie-N-Zug an der Station Fifty-ninth Street und ging die paar Schritte bis zum Sutton Square. Er hatte sie den ganzen Tag noch nicht gesehen.
Obwohl er einen Haus- und einen Wohnungsschlüssel hatte, klopfte er an. Und klopfte noch einmal, als sie nicht reagierte. Er sah, dass drinnen Licht brannte. Er benutzte seinen Schlüssel und trat ein. Als er sah, dass die Alarmanlage aktiviert war, wusste er, dass Gia nicht zu Hause war. Er gab den Code ein, mit dem die Anlage ausgeschaltet wurde, und blieb im Foyer stehen. Er fragte sich, wo sie sein konnte. Er hatte ihr erzählt, er würde das Abendessen ausfallen lassen, daher war sie vielleicht alleine ausgegangen. Aber sich allein zum Dinner in ein Restaurant zu setzen … das sah Gia überhaupt nicht ähnlich.
Er ging durch die Diele in die Küche, um nachzusehen, ob sie eine Nachricht für ihn hinterlassen hatte, und bekam einen eisigen Schreck, als er eine von Lyles Ifasen-Broschüren auf der Frühstücksbar entdeckte.
O nein! Sie hatte versprochen, sich von dieser Adresse fern zu halten. Hatte sie etwa …?
Er griff nach dem Telefon, betätigte die Wahlwiederholungstaste und hörte schließlich Lyles Stimme auf seinem Anrufbeantworter.
Das war es also. Sie war unterwegs zum Menelaus Manor. Vielleicht war sie sogar schon dort eingetroffen.
Jack eilte zur Haustür. Das gefiel ihm gar nicht. Gia würde niemals ohne einen absolut triftigen Grund ein Versprechen brechen. Irgendetwas stimmte nicht.
9
Gia zögerte, als sie eine schattenhafte Gestalt etwa auf der Hälfte des Weges durch den Vorgarten zur Haustür der Kentons stehen sah. Der Himmel war mondlos, doch das Haus wirkte so erleuchtet, als wäre dort eine Party in vollem Gang. Die Gestalt war für Jack oder Lyle oder Charlie viel zu klein.
Dann entdeckte sie den Hund.
O nein, dachte Gia. Nicht die schon wieder.
»Bitte, bleib weg«, sagte die Frau mit einer Stimme, die abgehackt und weich zugleich klang. Im Widerschein des Lichts aus dem Haus konnte Gia sehen, dass sie heute einen orangen Sari trug. Ihr Nasenring war durch einen winzigen Brillantstecker ersetzt worden. »Ich habe dich schon früher gewarnt, aber du hast nicht darauf reagiert. Diesmal aber musst du auf mich hören.«
Gias Ärger gewann die Oberhand, während sie sich an der Frau vorbeidrängte. Sie musste um jeden Preis in dieses Haus gelangen, anstatt hier draußen herumzustehen und einer Frau zuzuhören, die offenbar nicht ganz bei Verstand war.
»Was ist los? Warum sind Sie ständig hinter mir her?«
Die mit silbernen Ringen geschmückten Finger der Frau spielten mit einem langen Haarzopf, der über ihre Schulter herabhing. »Weil dieses Haus gefährlich für dich ist.«
»Das haben Sie schon einmal behauptet, aber bis jetzt ist mir nichts zugestoßen.«
Die dunklen Augen der Frau musterten sie beschwörend. »Wenn du schon nicht auf dich selbst Rücksicht nimmst, dann denk wenigstens an dein Baby.«
Gia taumelte rückwärts. Sie war zutiefst erschüttert. »Wie bitte?« Wie konnte sie das wissen? »Wer sind Sie?«
»Ich bin deine Mutter.« Sie sagte es absolut beiläufig, so als stellte sie
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