HMJ06 - Das Ritual
etwas Selbstverständliches fest. »Eine Mutter weiß solche Dinge.«
Das klärte die Angelegenheit. Gias Mutter befand sich in Iowa, und diese Frau war verrückt. Für einen kurzen Augenblick hatte sie sie mit dieser Bemerkung über das Baby beinahe überzeugt … dabei war es nicht mehr als eine wilde Vermutung gewesen.
»Vielen Dank für Ihre Fürsorge«, sagte sie und ging rückwärts zum Haus. Man sollte sich niemals ernsthaft mit einer Geisteskranken auseinander setzen. »Ich muss wirklich ganz dringend ins Haus hinein.«
Die Frau kam näher. »O bitte«, sagte sie mit einer Stimme, die vor Qual zitterte. Sie hatte den Zopf jetzt mit beiden Händen umfasst und drehte ihn hin und her. Ihre Besorgnis schien nicht gespielt zu sein. »Geh nicht dort hinein. Nicht heute Abend.«
Gias Schritte wurden langsamer, als etwas in ihr sie geradezu anflehte, auf die Frau zu hören. Aber sie konnte unmöglich draußen bleiben, wenn Jack im Haus war und vielleicht sogar in Gefahr schwebte. Sie zwang sich, kehrtzumachen und die Stufen zum Haupteingang hinaufzueilen. Die Tür stand offen. Ohne anzuklopfen trat sie über die Schwelle, schloss die Tür hinter sich und fühlte sich …
…willkommen.
Wie seltsam. Fast, als wäre das Haus außer sich vor Freude, sie wiederzusehen. Aber das war nicht möglich. Wahrscheinlicher schien, dass sie nur erleichtert war, der verrückten Frau entkommen zu sein.
»Hallo?«, rief sie. »Jack? Lyle? Charlie?«
Dann hörte Gia die Musik. Den Text konnte sie nicht verstehen, aber es klang rhythmisch und gefühlvoll. Und die Klänge kamen aus dem Keller. Sie eilte die Treppe hinunter, blieb jedoch stehen, als sie die Verwüstung bemerkte. Es sah aus, als wäre hier eine Bombe explodiert – die Wandtäfelung und der Zementboden waren zerschlagen und verstreut worden. Ins Erdreich waren wahllos Löcher gegraben worden.
Und dann entdeckte sie Charlie, der zusammengekauert vor der gegenüberliegenden Wand hockte. Sein Gesicht drückte namenloses Entsetzen aus, er schien ihr mit hektischen Gesten etwas mitteilen zu wollen. Sein Mund bewegte sich, formte Worte, doch er sprach nicht. Was versuchte er, ihr zu sagen? Er sah wie geistig verwirrt aus. Zuerst die indische Frau und jetzt Charlie. Hatte denn mittlerweile jeder den Verstand verloren?
»Charlie? Wo ist Jack?«
Die Musik verstummte. Gleichzeitig begann Charlie zu reden.
»Gia!« Er deutete auf einen Punkt links von ihr. »Sie – es ist da!«
Gia machte zwei Schritte in den Kellerraum und sog zischend die Luft ein, als sie das kleine Mädchen bemerkte.
»Tara?« Nachdem sie mit ihrem Vater gesprochen, ihre Fotos gesehen und ihre Geschichte gehört hatte, kam es Gia vor, als würde sie das Kind genau kennen. »Du bist es wirklich, nicht wahr?«
Die Kleine nickte so heftig, dass ihre blonden Haare flogen. »Hallo, Mutter.«
Mutter? Hier schien einiges völlig durcheinander geraten zu sein.
»Nein. Ich bin nicht deine Mutter.«
»Oh, das weiß ich.«
»Warum sagst du dann …?«
Charlie stieß sich von der Wand ab und kam auf sie zu. »Hauen Sie ab, Gia! Schnell! Sie hat auf Sie gewartet!«
»Es ist schon okay, Charlie.« Trotz der feuchten Kälte im Keller empfand Gia Wärme und Geborgenheit. »Ich habe keine Angst. Wo ist Jack?«
»Er und Lyle haben mich allein zurückgelassen.« Er deutete auf Tara. »Dann ist das da plötzlich erschienen.«
»Meine Mutter …« Tara runzelte die Stirn. »Sie denkt nicht mehr an mich.«
»Das liegt nur daran, dass sie es nicht kann, Liebling. Sie …«
»Ich weiß.« Die Worte kamen gleichgültig, ohne Gefühl heraus.
Charlie hatte sie mittlerweile erreicht und stand neben ihr. Er fasste mit einer kalten, zitternden Hand nach ihrem Arm. Seine Stimme klang rau und war kaum mehr als ein Flüstern.
»Wir müssen hier raus. Wenn sie uns lässt.«
Gia sah Tara fragend an. »Du hältst uns doch nicht hier fest, oder?«
Das Kind lächelte versonnen. »Ich möchte, dass die Mutter noch ein wenig bleibt.«
»Das ist nicht gut!«, protestierte Charlie. »Tote und Lebende passen nicht zusammen!«
»Warum gehen Sie nicht schon«, sagte Gia. »Ich bleibe hier.«
»Hm-hm.« Charlie schüttelte den Kopf. »Ohne Sie gehe ich nicht. Das ist schlecht – sie ist schlecht. Spüren Sie das nicht?«
Gia hatte Mitleid mit ihm. Er war derart verängstigt, dass er am ganzen Leib zitterte. Seltsamerweise war sie selbst völlig ruhig. Kaum zu glauben, dass sie mit dem Geist eines ermordeten Kindes sprach
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