HMJ06 - Das Ritual
überwinden, seine Hand bewegte sich keinen Millimeter weiter vor.
Lyle schaute Jack an und sah, wie er zurückwich und den Boden absuchte. Er bückte sich, hob einen Stein auf und schleuderte ihn. Lyle verfolgte, wie er in hohem Bogen in Richtung Haus flog, dann mitten in der Luft stehen blieb und senkrecht zu Boden fiel.
Mit einem kehligen Laut warf sich Jack nach vorne auf die Treppe zu, nur um aufgehalten zu werden und rückwärts zu taumeln.
»Vorsicht, Jack.«
»Gia ist da drin!«
»Das wissen Sie nicht.«
»Doch, ich weiß es! Verdammt! Das ist es, was Tara die ganze Zeit gewollt hat – dass Gia alleine ins Haus kommt.«
»Aber sie ist nicht alleine. Char…« Lyles Herzschlag stolperte und übersprang einen Schlag. »O Scheiße! Charlie ist auch da drin. Was meinen Sie, was dort gerade geschieht?«
»Das weiß ich nicht, aber es kann nichts Gutes sein, wenn sie dazu den gesamten Bau zusperrt.« Er schlug die Richtung zur Hausseite ein. »Mal sehen, ob diese Erscheinung um das ganze Haus herumreicht.«
Sie tat es. Sie umkreisten das Haus, attackierten die Fenster und die Hintertür und bewarfen beides mit Steinen. Jeder Fremde, der sie beobachtete, hätte annehmen müssen, dass sie betrunken waren und dass man sie ausgesperrt hatte. Sie riefen nach Gia und Charlie, doch niemand antwortete.
Dann kamen sie zur Garage – und gelangten ungehindert hinein. Aber sie erreichten nicht die Tür. Die von der Garage ins Haus führte.
Lyle lehnte sich gegen die undurchdringliche Luftbarriere und fühlte sich alles andere als wohl. Das konnte – nein, durfte – nicht sein. Was geschah mit der Welt?
»Jack …«
Sein Gesicht lief bei dem Versuch, einen Besenstiel durch die Barriere zu stoßen, rot an. »Das macht einen fertig, nicht wahr? Unten ist oben, und oben ist unten, Naturgesetze gelten nicht mehr. Dinge, die man nie für möglich gehalten hat, finden wie selbstverständlich statt.« Mit einem Laut hilfloser Wut schleuderte er den Besen quer durch die Garage. »Willkommen in meiner Welt.«
Lyle entdeckte eine Leiter, die an der Wand lehnte. »Hey, wenn wir nicht durch die Barriere dringen können, vielleicht schaffen wir es, darüber hinwegzuklettern.«
»Vergeudet eure Zeit nicht«, sagte eine Frauenstimme. »Das schafft ihr nicht.«
Lyle fuhr herum und erblickte die indische Frau in einem orangen Sari. Ihre dunklen Augen und die des Deutschen Schäferhundes, der neben ihr stand, waren auf Jack gerichtet.
»Warum nicht?«, wollte Lyle wissen.
»Weil sie hoch hinauf reicht.«
»Wie hoch?«
»Unendlich hoch.«
Wer war diese Frau? Woher war sie so plötzlich gekommen?
»Woher wissen Sie so viel über diese Erscheinung?«, fragte Lyle.
»Ich weiß es eben.«
So selbstverständlich, wie sie dies behauptete, glaubte Lyle ihr aufs Wort.
»Da müssen Sie sich schon etwas Besseres einfallen lassen«, sagte Jack.
Er machte einen Schritt vorwärts auf sie zu, blieb jedoch sofort stocksteif stehen, als der Hund drohend knurrte.
Ihre Augen funkelten ihn an. »Habe ich Sie nicht vor diesem Haus und seinen Gefahren für Sie und Ihre Frau gewarnt? Habe ich das nicht ganz unmissverständlich getan? Und keiner von Ihnen wollte auf mich hören!«
Warum habe ich davon nichts gewusst, dachte Lyle.
»Doch, das haben Sie. Und offensichtlich hätten wir gehorchen sollen. Aber was nun? Mit Ich-habe-Sie-rechtzeitig-gewarnt wird das Problem nicht gelöst. Wenn Sie so viel wissen, können Sie uns dann verraten, was hier vor sich geht?«
»Ihre Frau und Ihr Baby schweben in größter Gefahr.«
Baby? War Gia schwanger? Lyle sah, wie Jack kreidebleich wurde. Er sah plötzlich richtig ängstlich aus, was Lyle niemals für möglich gehalten hätte.
»Woher wissen Sie …? Ist schon gut. Welche Art von Gefahr? Warum?«
»Das Warum ist nicht von Bedeutung, weil das Warum sich geändert hat. Doch die Gefahr ist tödlich.«
Lyles Mund war plötzlich wie ausgetrocknet. »Auch Charlie?«
Sie sah ihn nicht an. »Jeder im Haus schwebt im Augenblick in Gefahr.«
Wie konnte sie das alles wissen – wie konnte sie überhaupt irgendetwas davon wissen? Sie konnte sich irren oder sogar vollkommen verrückt sein.
Jack schien ihr Glauben zu schenken. Er drehte sich um die eigene Achse, hatte die Hände zu Fäusten geballt. Er sah aus, als würde er jeden Moment explodieren.
»Es muss doch einen Weg hinein geben. Irgendeinen!«
Die Augen der Frau blieben auf Jack gerichtet. Lyle schenkte sie nicht mehr Aufmerksamkeit als
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