HMJ06 - Das Ritual
müssen sich nicht unbedingt auch auf seine emotionale Seite erstrecken. Beziehungsmäßig könnte er durchaus ein Versager sein.
Gesundheit? Er selbst sieht absolut fit aus, aber er könnte um die Gesundheit eines anderen Menschen besorgt sein. Zum Beispiel Ehefrau, Eltern oder Kinder.
Lyle schloss die Augen und entschied, es in Richtung Gesundheit zu versuchen. Er würde zu diesem Komplex ein paar unverfängliche Bemerkungen machen und abwarten, was der Mann von sich preisgab. Falls man dort nicht fündig wurde, könnte er nach Eheproblemen forschen. Doch er bezweifelte, dass das nötig sein würde.
»Da die Geister das Licht scheuen, werden wir dafür sorgen, dass der Raum etwas einladender auf sie wirkt.«
Hinten in Charlies Kommandozentrale, einem kleinen Raum jenseits der Wand nach Süden, den er mit allem möglichen elektronischen Spielzeug voll gepackt hatte, würde sein Bruder Lyles Worte hören, die von einem winzigen Mikrofon aufgenommen wurden, das in dem Kronleuchter genau über ihnen versteckt war, und entsprechend reagieren. Und tatsächlich: Die Glühbirnen verblassten, bis nur noch der matte Schein einer einzelnen roten Birne den Tischbereich erhellte.
»Ich spüre es«, sagte Lyle. »Ich spüre, wie sich die Tore öffnen …« Charlies Stichwort, um einen leichten kalten Luftstrom auf den Tisch zu lenken »…um uns den Kontakt mit der Anderen Seite zu gestatten.« Er ließ den Kopf nach hinten sinken, öffnete den Mund und gab ein langes, leises »Aaaaaaaahhhhhh« von sich.
Der Laut war nicht nur Show. Zum Teil war er echt, Ausdruck eines sanften ekstatischen Rausches seiner Seele, wie träger, genussvoller Sex …
Den er nicht hatte.
Stopp! Verdirb nicht alles wegen einer untreuen …
Ruhig …, ganz ruhig … Er sagte sich, dass dies der Moment war, in dem er sich am lebendigsten fühlte. Dies war der Moment, in dem er alles unter Kontrolle hatte, in dem er diesen kleinen Winkel der Welt vollkommen beherrschte. Sein übriges Leben mochte im Augenblick ein einziges Chaos sein, aber zu diesem Zeitpunkt, an diesem Ort, diktierte er das Geschehen. Hier war er der Meister …
Meister der Illusion … Das war der Spitzname, den er sich als Teenager selbst gegeben hatte. Und er hatte sich damit nicht selbst gestreichelt. Das war nämlich genau das, was er geworden war, nachdem Momma gestorben war. Oder genauer: getötet worden war. Sie war auf dem Rückweg vom Markt mit vollen Einkaufstaschen durch den Westwood Park gegangen und hatte bei Grün eine Straße überquert, als zwei Autos wie aus dem Nichts auftauchten, einander ein Rennen lieferten und sich gegenseitig mit 9-mm-Kugeln beschossen, dabei die für sie rote Ampel überfuhren und die Frau zehn Meter hoch in die Luft schleuderten. Die Bastarde wurden nie gefunden.
Für die restliche Stadt war sie nur ein unschuldiges Opfer der Crack-Kriege gewesen, die in Detroit tobten. Aber für Lyle und Charlie hatte sie die Welt bedeutet. Ihr Vater war in Lyles Erinnerung nur ein undeutlicher Schatten und in Charlies Erinnerung überhaupt nicht existent. Dads Bruder, Onkel Bill, kam ab und zu vorbei, aber seit er an die Westküste umgezogen war, hatte niemand mehr etwas von ihm gehört.
Da waren sie dann, die Kenton-Brüder, Lyle sechzehn, Charlie zwölf Jahre alt, ganz allein, auf die Hilfe von Nachbarn angewiesen. Aber sehr bald tauchten die Leute von der Kinderfürsorge auf und schnüffelten herum. Er und Charlie konnten nur kurze Zeit so tun, als wäre gerade niemand zu Hause, bis sie eine Mietzahlung zu viel versäumten und auf der Straße landeten, oder, was noch schlimmer war, getrennt und in Waisenhäusern untergebracht wurden.
Also beschloss Lyle, die Rolle seines Onkels Bill zu übernehmen. Er war damals für sein Alter sehr groß gewesen, und mit Hilfe eines künstlichen Bartes und mit ein wenig Schminke schaffte er es, die Sozialarbeiterin zu täuschen. Er erinnerte sich noch immer an Maria Reyes, MSW, eine gute Frau mit dem aufrichtigen Anliegen, anderen Menschen zu helfen. Sie glaubte, dass Lyle Bill Kenton war. Sie glaubte, dass Saleem Fredericks – ein Freund eine Etage tiefer in der Mietskaserne, den er sich immer anlässlich der gelegentlichen Hausbesuche auslieh – Lyle war.
Und dabei lernte Lyle etwas kennen: die Macht des Glaubens, und die noch größere Macht des Wunsches nach Glauben, des Bedürfnisses nach Glauben. Mrs. Reyes glaubte, weil sie glauben wollte. Sie wollte die Brüder nicht trennen. Sie wünschte sich
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