HMJ06 - Das Ritual
Konzentration. »Ich spüre jemanden von der Anderen Seite, der versucht Kontakt mit Ihnen aufzunehmen. Ihre Mutter vielleicht? Lebt sie noch?«
»Ja. Es geht ihr nicht gut, aber sie ist noch unter uns.«
Das konnte es sein. Aber jetzt musste er erst einmal die Bemerkung über die Mutter relativieren.
»Warum habe ich dann dieses Gefühl einer eindeutig mütterlichen Präsenz? Sehr liebevoll? Eine Großmutter, vielleicht? Sind Ihre Großmütter auf die Andere Seite hinübergewechselt?«
»Ja. Beide.«
»Ah, dann kommt dieses Gefühl von dort her. Von einer Ihrer Großmütter – obgleich ich noch nicht genau weiß, von welcher. Aber das wird sich herausstellen, ganz sicher … Es wird schon klarer …, deutlicher …«
McCarthy, dachte Lyle. Ire. War Großmutter McCarthy hier oder war sie drüben in Irland? Das wäre nicht so wichtig. Lyle wusste, wie er Iren packen und entlarven konnte. Es funktionierte immer.
»Ich spüre bei dieser Person eine große Liebe zu einem amerikanischen Präsidenten … Könnte das sein? Ja, diese Frau hatte für Präsident Kennedy einen ganz besonderen Platz in ihrem Herzen.«
Vincent McCarthy quollen die Augen fast aus dem Kopf. »Grandma Elizabeth! Sie hat Kennedy geliebt! Davon, dass er erschossen wurde, hat sie sich nie richtig erholt. Das ist unglaublich! Woher wissen Sie das?«
Welche irische Großmutter liebte Kennedy nicht, fragte sich Lyle.
»Oh, Sie würden niemals glauben, was er alles weiß«, flüsterte Anya.
»Ifasen ist atemberaubend«, fügte Evelyn hinzu. »Er weiß alles, wirklich alles.«
»Ich weiß nichts«, verkündete Lyle. »Es sind die Geister, die wissen. Ich bin nur ein Kanal zu ihnen und ihrer Weisheit.«
Lyle konnte den Hunger in McCarthys Augen erkennen. Er wollte mehr. Er glaubte bereits und wollte vollends in die erträumten übersinnlichen Gefilde abspringen, aber seine irisch-katholische Erziehung hielt ihn noch davon ab. Er brauchte einen kleinen Anstoß, wünschte ihn sich sogar. Und Lyle würde ihm das Gewünschte auch geben. Nur noch nicht sofort.
Besser wäre es, ihn eine Weile zappeln zu lassen.
Lyle wandte sich an Evelyn.
»Aber etwas anderes kommt durch, ein stärkeres Signal, das, wie ich glaube, auf Ms. Jusko gerichtet ist.«
Evelyn presste eine Hand auf ihren Mund. »Auf mich? Wer ist es? Oscar vielleicht? Ruft er nach mir?«
Ja, es sollte Oscar sein, aber Lyle wollte das Ganze noch ein wenig in die Länge ziehen. Oscar war ihr geliebter, vor kurzem eingegangener Hund. Vor zwei Monaten war sie zu Lyle gekommen und hatte wissen wollen, ob er Kontakt mit ihrem Haustier auf der Anderen Seite aufnehmen könne. Natürlich könne er das. Das Problem war nur, dass sie ihm nicht verraten hatte, zu welcher Rasse Oscar gehörte oder wie er aussah, und Lyle hatte völlig vergessen, sich danach zu erkundigen.
Das brauchte er auch nicht.
Während der ersten Sitzung – auf Lyles Forderung hin einer privaten, da Haustiere auf der Anderen Seite nur unter großen Schwierigkeiten aufzuspüren waren – war Charlie hereingeschlichen, während die Beleuchtung gelöscht war, und hatte sich Evelyns Handtasche ausgeborgt. In seinem Kontrollraum hatte er sie durchsucht und einen Stapel Fotos von einem mahagonifarbenen Vizsla gefunden. Die Beschreibung hatte er dann in Lyles Ohrhörer übermittelt. Ehe er die Tasche wieder zurückgestellt hatte, war ihm noch eine Hundepfeife in die Hände gefallen, die er ganz unten in der Handtasche entdeckt hatte.
Lyle hatte Evelyn zutiefst verblüffen können, indem er ihren Oscar bis zu seinem mit Edelsteinen besetzten Halsband beschrieb. Die Frau war so glücklich gewesen, zu erfahren, dass er unbeschwert und ausgelassen Kaninchen durch das Paradies jagte, dass sie auf dem Weg zur Tür 2500 Dollar als freiwillige Liebesgabe zurückließ.
»Ja«, sagte Lyle jetzt. »Ich glaube, es ist Oscar. Und er wirkt ein wenig verärgert.«
»O nein!«, rief Evelyn. »Was ist los?«
»Ich bin mir nicht sicher. Es scheint, als hätten Sie etwas verlegt, das ihm gehört, und er fragt sich, ob Sie überhaupt noch an ihn denken.«
»Verlegt? Was soll ich verlegt haben?«
In ein paar Sekunden würde Evelyn ihren ersten Apport erhalten – einen Gegenstand, der auf magische Weise durch die Geisterwelt von einem Ort an einen anderen transportiert wurde. Auf Lyles Stichwort hin würde Charlie – ganz in Schwarz gekleidet – sich, wenn der richtige Moment gekommen war, nähern und Oscars alte Hundepfeife auf den Tisch
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