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HMJ06 - Das Ritual

HMJ06 - Das Ritual

Titel: HMJ06 - Das Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Paul Wilson
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der Reverend Doktor Gray, ein massiger, grobschlächtiger Weißer, der meinte, dass ein junger afrikanisch klingender Schwarzer als Assistent dem mystischen Charakter seiner Glaubensgemeinschaft nur zuträglich war, ihn beiseite und gab ihm einen unschätzbar wertvollen Rat.
    »Sieh zu, dass du dich bildest, mein Sohn«, sagte er zu Lyle. »Ich meine nicht irgendeinen akademischen Grad oder einen Titel, ich meine, du sollst lernen. Du wirst Menschen aus allen Bereichen des Lebens und mit unterschiedlichem Bildungsgrad kennen lernen. Wenn du in diesem Geschäft Erfolg haben willst, musst du dir ein umfangreiches Wissen auf sehr vielen Gebieten aneignen. Du brauchst nirgendwo ein Experte zu sein, aber du musst zumindest so weit damit vertraut werden, dass du ein wenig mitreden kannst.«
    Lyle nahm sich diesen Rat zu Herzen, schlich sich in Vorlesungssäle und Kurse und Seminare an der Universität von M. Wayne State und an der Universität von Detroit Mercy und hörte alles von Philosophie über Wirtschaftswissenschaften bis hin zu aben-dländischer Literatur. In dieser Zeit begann er außerdem, den Einfluss der Straße nach und nach aus seinem Vokabular zu entfernen. Damit verdiente er zwar noch keinen einzigen Cent, aber eine ganze Welt hatte sich ihm aufgetan, eine Welt, die er mitnahm, als er und Charlie Ann Arbor verließen und nach Dearborn gingen, um dort ihr Glück auf eigene Rechnung zu versuchen.
    Dort ließ Lyle sich in einem ganz normalen Laden mit Schaufenster als spiritistischer Berater nieder. Sie schufteten wie die Wahnsinnigen, um ihre Auftritte und Techniken zu vervollkommnen. Das Geld floss reichlich, aber Lyle wusste, dass er noch mehr erreichen konnte. Also zogen sie weiter.
    Und landeten hier, in einem der oberen Bezirke von Queens, New York.
    Schaffe es, ehe du dreißig bist, hieß es. Nun, Lyle war im vergangenen Monat dreißig geworden, und er hatte es geschafft.
    Und jetzt, im ersten Immobilieneigentum sitzend, das er je besessen hatte, schob Lyle Kenton die Hände über die auf Hochglanz polierte Eichenplatte des Tisches und sorgte dafür, dass die Enden der Eisenstäbe, die in den Ärmeln seiner Jacke an seine Unterarme geschnallt waren, unter den Rand der Tischplatte rutschten. Er hob die Unterarme, und der Tisch folgte an seinem Ende dieser Bewegung.
    »Es ist so weit«, flüsterte Evelyn, als sich der Tisch in ihre Richtung neigte. »Die Geister sind da!«
    Lyle senkte die Arme wieder und betätigte einen der Hebel, die Charles in die Beine des klauenfüßigen Tisches eingebaut hatte, damit auch die andere Seite hochsteigen konnte, direkt unter Vincent McCarthys Händen. Lyle wagte einen Blick durch die zusammengekniffenen Augenlider und sah, wie sich McCarthys Augenbrauen zusammenzogen. Doch er verriet durch kein Zeichen, dass er übermäßig beeindruckt war.
    »Autsch!« Anya kicherte, als ihr Stuhl nach einem elektronischen Signal von Charlies Kommandostelle gefährlich nach hinten kippte. »Da ist es schon wieder. Es passiert jedes Mal!«
    Dann kippte Evelyns Stuhl und schließlich auch McCarthys. Diesmal zeigte seine Miene Verblüffung. Tischrücken mochte er noch als harmlos abtun, aber dass sein Stuhl sich ohne sein Zutun bewegte …
    Es wurde Zeit, ihn zu einem Gläubigen zu machen.
    »Etwas kommt durch«, sagte Lyle und kniff die Augen zu. »Ich glaube, es betrifft unseren neuen Gast. Ja, Sie, Vincent. Die Geister nehmen einen inneren Aufruhr bei Ihnen wahr. Sie spüren, dass Sie sich wegen irgendetwas Sorgen machen.«
    »Tun wir das nicht alle?«, fragte McCarthy.
    Lyle behielt die Augen geschlossen, den Spott konnte er aber hören. Vincent wollte glauben – deshalb war er hergekommen –, doch dabei kam er sich ein wenig albern vor. Er war kein Trottel und hatte nicht vor, sich von jemandem zum Narren halten zu lassen.
    »Aber es ist eine tiefe Sorge, die Sie bewegt, Vincent, und es geht nicht um so etwas Banales wie Geld.« Lyle schlug die Augen auf. Er musste anfangen, sich an den nonverbalen Hinweisen zu orientieren. »Es zerrt an Ihrem Herzen. Nicht wahr?«
    McCarthy blinzelte, sagte aber nichts. Das brauchte er auch nicht. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände.
    »Ich spüre außerdem eine sehr große Verwirrung in Verbindung mit dieser Sorge.«
    Abermals nickte er. Doch das hatte Lyle erwartet. Wenn McCarthy nicht verwirrt wäre, dann säße er nicht hier.
    Lyle schloss halb die Augen und presste sich die Finger auf die Schläfen. Das war seine Haltung tiefster

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