HMJ06 - Das Ritual
zukommt, können aber nicht genau sagen, was es ist. Daher suchen sie nach einem Glaubenssystem, das ihnen eine Antwort und eine Lösung vorgibt.«
»Was ist denn mit uns armen Teufeln, die kein solches Glaubenssystem besitzen, auf das sie sich stützen können?«
Jack seufzte. »Wir sind wahrscheinlich diejenigen, die in den Schützengräben sitzen und sich mit dem Horror herumschlagen müssen, sobald er da ist.«
»Meinst du, dieses Erdbeben hätte irgendetwas damit zu tun?«
»Ich wüsste nicht, wie, aber das heißt gar nichts. In letzter Zeit habe ich so oft erlebt, dass harmlos erscheinende Situationen plötzlich eine abrupte Kehrtwendung erfahren und mit vollem Karacho in eine Katastrophe rauschen.«
Er dachte an die vergangene Nacht … und wie das Erdbeben in genau dem Augenblick anzufangen schien, als er und Gia die Schwelle des Menelaus Manor überschritten. Er wollte das Ganze für einen Zufall halten, aber es war kein besonders tröstlicher Gedanke, dass das Haus genau auf einem Riss in der Erdkruste stand, dem direkten Zugang zu einer Masse uralten Gesteins, das keine Ruhe geben wollte.
Er fragte sich, ob Ifasen irgendwelche Nachwirkungen spürte.
4
»Also, sobald wir alle die Hände auf den Tisch gelegt haben, die Handflächen auf die Tischplatte, genau so … Und wenn wir nun alle ganz entspannt sind, fangen wir an.«
Lyle betrachtete seine drei Kunden, die sich um den runden klauenfüßigen Eichentisch verteilt hatten. Die beiden Frauen mittleren Alters, Anya Spiegelman und Evelyn Jusko, waren schon einmal da gewesen, und er wusste alles von ihnen. Vincent McCarthy war neu. Ein unbeschriebenes Blatt. Alles, was Lyle bis zu dessen Ankunft vor ein paar Minuten kannte, war sein Name.
Aber jetzt hatte er schon einige Informationen über ihn. Und in den nächsten Minuten würde er noch mehr über ihn erfahren. Lyle liebte die Herausforderung, die ein so genanntes »Cold Reading« darstellte.
»Ich möchte, dass jeder für einen Moment die Augen schließt und ganz tief atmet … nur ein paar Atemzüge, damit Sie sich beruhigen. Innere Unruhe stört den Geistkontakt.
Wir müssen uns in einem Zustand des inneren Friedens befinden …«
Frieden … Lyle musste ganz entspannt sein, um alles richtig zu machen. Wenigstens gab das Haus im Augenblick Ruhe. Kurz bevor die Kunden eingetroffen waren, hatten die Fenster und Türen ihre seltsame Aktivität eingestellt. Sie hatten sich nicht mehr geöffnet. Jetzt musste nur noch er selbst den inneren Frieden finden.
Was nicht so einfach war, nachdem er an diesem Morgen Kareena in ihrer Wohnung angerufen hatte und ein Mann sich meldete und meinte, Kareena stünde gerade unter der Dusche, ehe er fragte, ob er – Lyle – vom Sender wäre.
Er hatte seine Wut und Verletztheit unter Kontrolle gehalten. Er hatte sogar zugelassen, dass Kareena seine Gefühle in Aufruhr brachte, doch er hatte nicht vor, sich von ihr um seinen Lebensunterhalt bringen zu lassen. Er musste alle negativen Gefühle verdrängen und positiv denken … wenigstens für diesen Augenblick. Und sich auf Vincent McCarthy konzentrieren.
Lyle öffnete die Augen und studierte ihn. Er schätzte sein Alter auf etwa vierzig, und er wusste, dass er einigermaßen wohlhabend war. Das verrieten ihm sein Golfhemd von Brooks Brothers und die teure leichte Sommerhose. Desgleichen der funkelnagelneue Lexus SC 430 Hardtop Convertible, den er in der Auffahrt geparkt hatte. Keine Tätowierungen auf den gebräunten Unterarmen, kein Ohrschmuck, nur ein schlichter goldener Ring an seinem Ringfinger. Ein Blick auf die Hände: sauber, keine Schwielen, gepflegte Fingernägel.
Demnach haben wir es mit einem verheirateten, gut situierten weißen Knaben in den Vierzigern zu tun. Er ist nach Astoria gekommen, um sich an einem Samstag, der für eine Runde Golf ideal gewesen wäre, in einen abgedunkelten Raum zu setzen. Das kann nur heißen, dass er aus irgendeinem Grund große Sorgen hat.
Geld? Nicht sehr wahrscheinlich.
Etwas Geschäftliches? Ebenfalls unwahrscheinlich. Falls Vincent in einem Unternehmen arbeitet, dann gehört es entweder ihm, oder er ist ein hochrangiger Manager. Er kennt sich mit Spreadsheets und Konferenzräumen aus. Er würde niemals die Geisterwelt wegen eines Bereichs in seinem Leben konsultieren, in dem er sich selbst als Alpha-Männchen betrachtet.
Eheprobleme? Möglich. Die Fertigkeiten, die ihn in dem Teil seines Lebens erfolgreich sein lassen, der von Geld bestimmt wird,
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