HMJ06 - Das Ritual
einen Blutsverwandten als Vormund, und daher hatte sie alles geglaubt, was Lyle ihr auftischte.
Aber hatte sie das wirklich? Jahre später fragte sich Lyle, ob Mrs. Reyes ihn nicht die ganze Zeit über durchschaut hatte. Er fragte sich, ob sie wohl – nicht durch seine Darbietung, sondern durch seine Entschlossenheit, die Reste der zerstörten Familie zusammenzuhalten – überzeugt worden war und dass dies auch der Grund gewesen war, weshalb sie es zugelassen hatte, dass er praktisch sein eigener Vormund wurde. Irgendwann würde er sie suchen und sie danach fragen.
Ganz gleich, wie die Wahrheit aussah, der sechzehnjährige Lyle Kenton hatte endlich seinen Beruf gefunden: den Schwindel, die Gaunerei, den Betrug, die Bauernfängerei. Wenn er es schaffte, die städtischen Behörden hinters Licht zu führen, dann würde er es auch bei jedem anderen schaffen. Sein erster bezahlter Job war der eines Ausgucks für eine Kümmelblättchen-Runde in der City. Er achtete auf der Straße auf die Polizei und hielt sich bereit, die vereinbarte Warnung zu rufen, auf Grund derer das Spiel abrupt beendet wurde. Er lernte sehr schnell, die Codeworte des Abstaubers zu verstehen, und rückte hoch in die Position des Köders, als der er am Tisch herumstand und die potenziellen Opfer ins Spiel lockte. Während seiner Freizeit aber übte er wie ein Besessener mit den Karten, damit er möglichst bald selbst als Abstauber auftreten und sein eigenes Spiel eröffnen könnte.
Doch nach einem besonders aufregenden Zwischenfall, als er es kaum geschafft hatte, einem Polizisten in Zivil zu entwischen, hielt er Ausschau nach etwas zwar genauso Profitablem, aber weitaus weniger Gefährlichem. Und er wurde fündig: eine spiritistische Telefon-Hotline. Beim Vorstellungsgespräch verschaffte ihm ein falscher jamaikanischer Akzent den Job. Und nach ein paar Stunden des Übens mit einer Liste unverfänglicher Fragen stieß er zu der Truppe aus Männern und Frauen – die Frauen waren in der Überzahl – in einem Loft, das mit Telefonen und Schalldämmplatten angefüllt war.
Alles, was man ihm beigebracht hatte, war, die Opfer so lange wie möglich in der Leitung zu halten. Zuerst einmal die Namen und die Adressen zu erfragen, damit die Opfer in eine Postversandliste für alles Mögliche, von Tarotkarten bis hin zu Würfeln, die einem sein Schicksal weissagen, aufgenommen werden konnte. Als Nächstes sollte er sie davon überzeugen, dass man einen direkten Draht zum Leben nach dem Tode und zu den Quellen der Alten Weisheiten habe, und ihnen alles erzählen, was sie hören wollen, sie dazu bringen, dass sie um mehr-mehr-mehr betteln, irgendetwas sagen, egal was, damit sie in der verdammten Leitung bleiben. Schließlich zahlten sie fünf oder sechs Dollar für eine Minute, um mediales Wissen zu erfragen, und Lyle war daran beteiligt. In null Komma nichts brachte er einen Riesen oder mehr pro Woche nach Hause, und zwar ohne sich einen abzubrechen.
Er – als Onkel Bill – und Charlie zogen aus der staatlich geförderten Mietskaserne aus und in ein Gartenapartment in den Vororten. Es war nichts Besonderes, aber nach Westwood Park war es wie Beverly Hills.
Das war zu der Zeit, als er sich Ifasen zu nennen – er hatte den Namen in einer Liste Yoruba-Namen gefunden – und einen westafrikanischen Akzent zu entwickeln begonnen hatte. Schon bald fragten die Hotline-Anrufer ganz gezielt nach Ifasen. Nein, ein anderer Gesprächspartner käme nicht in Frage. Das schuf ihm bei seinen Chefs natürlich keine Freunde. Die dachten nur daran, einen Service zu verkaufen und nicht irgendwelche Stars aufzubauen.
Also machte er sich in seiner Freizeit auf die Suche nach etwas Neuem. An einem sonnigen Sonntagmorgen stolperte er in Ann Arbor über die Eternal Life Spiritualist Church. Er nahm dort an einem Heilungsgottesdienst teil. Die Nadel auf seinem Unfug-Detektor sprang sofort in den roten Bereich, aber er blieb noch zur Bet- und Verkündigungsstunde. Am Ende, als er sah, wie ein Versammlungsteilnehmer nach dem anderen »Liebesgaben- und Treueschecks« auf die Kirche ausstellte, wusste er, dass dies sein nächster Schritt sein würde.
Er trat der Eternal Life Church bei, trug sich für mediale Aufbau-Workshops ein und freundete sich mit dem Pastor, James Gray, an. Schon bald diente er der Kirche als Lernmedium, was bedeutete, dass er in alle juristischen Winkelzüge eingeweiht und sogar aktiv daran beteiligt war. Nach ungefähr einem Jahr in dieser Rolle nahm
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