HMJ06 - Das Ritual
ich kann mich an keine Meldung erinnern, dass irgendwelche Adventisten in Astoria Theater gemacht hätten.«
»Es gibt dort keine«, sagte Lyle und wandte sich von seinem Bruder ab, »oder zumindest keine Gruppe, die für meine Zwecke groß und bedeutend genug wäre. Aber das hatte ich in meinen Plänen von Anfang an berücksichtigt. Ehe ich aus Dearborn verschwand« – er schickte Charlie einen weiteren wütenden Blick zu –, »habe ich einige Vorbereitungen getroffen und im News-Herald eine Anzeige aufgegeben, in der ich meine Abreise ankündigte. Ich erklärte dort, ich würde wegziehen, weil die örtliche Adventistengemeinde so viele Leute gegen mich aufgehetzt hätte, dass ich meine medialen Fähigkeiten in einer solchen Umgebung nicht mehr ausreichend entfalten könnte. Ich gäbe mich geschlagen. Sie hätten gesiegt. In Zukunft gäbe es dort keinen Ifasen mehr, den sie herumschubsen könnten. So oder ähnlich habe ich es ausgedrückt.«
»Aber ich dachte, Ihre Geschäfte florieren.«
»Das taten sie auch. Vor allem 1999. Mann, das halbe Jahr vor der Jahrtausendwende war unglaublich gut. Es war die beste Zeit.« Lyles Stimme klang richtig verträumt, als er sich erinnerte. »Ich wünschte, es wäre für immer bei 1999 geblieben.«
Jack kannte einige von Lyle Kentons »Kollegen«, die ihm genau das Gleiche erzählt hatten. Sei es die Handlesekunst, das Kartenlegen, die Astrologie und wer weiß was sonst noch auf diesem Gebiet – die Jahrtausendwende hatte sich in jeder Hinsicht als wahre Goldgrube für das Hokuspokusgewerbe erwiesen.
»Trotzdem, es wurde Zeit für einen Ortswechsel«, sagte Lyle.
Er erhob sich und lehnte sich gegen die Küchenanrichte. Je länger er sprach, desto mehr legte er seine abweisende Ifasen-Haltung ab. Der Knabe hatte wahrscheinlich niemanden außer Charlie als Gesprächspartner, und es war offensichtlich, dass er das dringende Bedürfnis hatte, sich mit jemandem über seine Tätigkeit zu unterhalten. Es sprudelte regelrecht aus ihm heraus. Jack bezweifelte, dass er ihn hätte zum Schweigen bringen können, wenn er es gewollt hätte.
»Also packten Charlie und ich unseren Kram zusammen und machten uns auf den Weg. Wir kauften vor zehn Monaten dieses Anwesen und haben fast unsere gesamten Ersparnisse in seine Renovierung gesteckt. Sobald wir alles so hergerichtet hatten, wie wir es uns vorstellten, rief ich die Adventisten an, die mich schon vorher belästigt hatten. Ich erklärte ihnen – natürlich benutzte ich einen anderen Namen –, dass ich ebenfalls Adventist sei und ihnen nur Bescheid sagen wolle, dass dieser Satan Ifasen, den sie aus Dearborn verjagt hätten, hier bei uns aufgetaucht sei und sich anschicke, die unschuldigen Seelen von Astoria in seine Gewalt zu bekommen. Sie hätten ihm doch schon einmal das Handwerk gelegt. Ob sie es nicht ein zweites Mal tun könnten?«
»Sagen Sie bloß, sie haben eine Busladung Demonstranten hierher gekarrt.«
»Das wäre ganz okay gewesen, aber ich hatte eine bessere Idee. Ich hatte bereits Anzeigen in der Village Voice und im Observer aufgegeben. Ich schickte den Adventisten Kopien der Anzeigen und äußerte den Gedanken, sie sollten doch auf denselben Seiten ebenfalls Anzeigen schalten und den Menschen darin die wahre Lehre Gottes verkünden.«
»Dazu hätten Sie doch die Adventisten nicht gebraucht«, wandte Jack ein. »Sie hätten selbst Anzeigen gegen ihr Unternehmen aufgeben können.«
»Das ist richtig. Ich wollte jedoch, dass alles korrekt zuging, für den Fall, dass die Zeitungen eine Überprüfung durchgeführt hätten. Außerdem sind solche großformatigen Anzeigen nicht gerade billig. Ich dachte, wenn ich jemand anderen fände, der die meisten Rechnungen in diesem Anzeigenkrieg bezahlen würde, dann wäre das doch ganz okay, nicht wahr?«
»Und sind sie darauf eingegangen?«
»Voll und ganz. Ich schickte ihnen per Post eine Spende von hundert Dollar, um die ganze Sache in Gang zu bringen, und sie legten tatsächlich los. Einen Monat lang erschienen wöchentlich großformatige Anzeigen der Adventisten.«
Jack lachte. »Das gefällt mir.«
Lyle grinste. Es war das erste Mal, dass er seine betont kühle, abweisende Maske ablegte, und gleich sah er aus wie ein großer Junge. Jack stellte fest, dass ihm die Person hinter dieser Maske ausgesprochen sympathisch war.
»Das geschieht ihnen nur recht«, sagte Lyle, und sein Lächeln verflog. »Sie haben versucht, mein Unternehmen zu ruinieren, nur weil ich offenbar
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