HMJ06 - Das Ritual
redegewandt.«
»O Mann«, stöhnte Charlie.
Lyles Stimme bekam einen bitteren Unterton. »Dann war letzte Nacht alles völlig umsonst?«
»Nicht ganz. Ich habe für Dienstagnachmittag einen Termin ergattert, und bis dahin muss noch einiges vorbereitet werden, wenn ich ihnen das Handwerk legen will.«
»Noch mehr elektrische Tricks?« Charlies Augen leuchteten auf.
»Diesmal nicht. Diesmal beschränke ich mich auf reine Handarbeit. Aber ich brauche Ihre Hilfe, um alles zu arrangieren. Haben Sie das Blue Directory abonniert?«
Lyle sah ihn verständnislos an. »Das Blue …?«
»Das Medium, für das ich damals gearbeitet habe, bezog regelmäßig ein Buch, das alle möglichen Informationen über Hunderte von Kunden enthielt.«
»Ach ja, richtig. Ich habe mal vor Jahren eine Ausgabe in die Finger gekriegt, aber ich beziehe es nicht. Wir benutzen eine Website …«
Was sonst?, dachte Jack. Schließlich leben wir im Computerzeitalter.
»Soll das heißen, das Verzeichnis ist jetzt online abrufbar?«
»Was wir benutzen, kommt nicht von den Herausgebern des Blue Directory, aber es ist im Grunde das Gleiche. Man bezahlt eine jährliche Gebühr für ein Passwort und …«
»Sehen wir es uns mal an«, sagte Jack. »Ich muss einen Toten finden, auf den ganz bestimmte Eigenschaften zutreffen.«
Lyle sah seinen Bruder an. »Charlie ist unser Computermensch. Kümmerst du dich darum?«
»Klar.« Charlie ging in Richtung Küche. »Hier entlang, mein Freund.«
Lyle hielt ihn am Arm zurück. »Benutz den im Kommandozentrum.«
»Aber dieser ist näher.«
»Wir haben da drin ein kleines Problem.«
Charlie musterte ihn fragend. »Ist der Fernseher immer noch …?«
Lyle nickte. »Es ist einfacher, wenn wir alle in den Channeling-Raum gehen.«
Jack hatte das Gefühl, als verstünde er nur jedes zweite Wort. »Was ist nicht in Ordnung?«
»Es gibt elektrische Probleme im Fernsehraum«, sagte Lyle. »Das ist alles.«
Jack war zwar überzeugt, dass es nicht alles war, doch offensichtlich wollten sie es für sich behalten.
Charlie ging voraus zu seiner Kommandozentrale neben dem Channeling-Raum. Jack wusste, dass er von dort aus den Ton, die Beleuchtung sowie sämtliche mechanischen Spezialeffekte während den Sitzungen steuerte. Der Computermonitor war nur einer von vielen Bildschirmen inmitten des Gewirrs aus Kabeln, Schlüsselfräse, Kameras, Scanner, Fotokopierer und einigen geheimnisvollen Kästen. Der auf dem Monitor träge dahingleitende Fisch des Bildschirmschoners zeigte an, dass der Computer bereits eingeschaltet war.
Charlie nahm davor Platz und drückte eine Taste auf dem Keyboard. Sekunden später erschien auf dem Bildschirm die Startseite einer Website mit dem harmlos klingenden Namen www.sitters-net.com
. Die Seite enthielt leere Kästchen für Benutzername und Passwort vor einem Hintergrund aus blauem Himmel und watteartigen weißen Wölkchen.
»Ziemlich offensichtlich, nicht wahr?«, stellte Jack fest.
Lyle zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich verirrt sich schon mal der ein oder andere Babysitter hierher, aber ›Sitter‹ ist ein gebräuchlicher Insiderbegriff.«
Jack wusste, dass die Praxis, die Lebensdaten der »Sitter«, wie die zahlenden Kunden in der Esoterik-Szene auch genannt wurden, aufzulisten, sich mindestens bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts zurückverfolgen ließ. Es hatte damit begonnen, dass Medien Karteien mit persönlichen Daten ihrer Klienten anlegten. Dann begannen sie, die Datenblätter mit anderen Medien auszutauschen. Schließlich ging jemand dazu über, die individuellen Angaben landesweit zu sammeln und sie in Form eines mit blauem Einband versehenen Verzeichnisses zu veröffentlichen und an andere Medien zu verkaufen. Seine alte Chefin, Madame Ouskaya, hatte das Verzeichnis ebenfalls regelmäßig bezogen. Das Internet war der unausweichliche nächste Schritt.
Charlie betätigte einige Tasten und »d-town« erschien nach der User ID, gefolgt von einer Reihe Sternchen im Password-Kästchen. Er drückte auf die Enter-Taste, und nach einigen Sekunden baute sich die Such-Seite auf.
Jack sagte: »Ich erinnere mich, dass im alten Blue Directory auch die Namen von Kunden aufgeführt wurden, nachdem sie gestorben waren – für den Fall, dass irgendein Angehöriger irgendwann mit ihnen Kontakt aufnehmen wollte.«
»In diesem Verzeichnis ist es genauso.«
Charlie klickte mit dem Mauszeiger auf ein Icon am oberen Rand des Bildschirms. »Hier kommen wir zur
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