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HMJ06 - Das Ritual

HMJ06 - Das Ritual

Titel: HMJ06 - Das Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Paul Wilson
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Problem haben Sie denn?«
    Lyle ging mit einem nachlässigen Achselzucken darüber hinweg. »Nichts Ernstes.«
    »Stimmt genau«, meinte Charlie. »Ein spukender Fernseher ist wirklich nichts Ernstes.«
    Lyle funkelte seinen Bruder wütend an. »Hier spukt gar nichts, Brüderchen.«
    »Was soll dann …?«
    Lyle brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Wir unterhalten uns später darüber.«
    Ein spukender Fernseher? Das klang interessant. Andererseits vielleicht auch wieder nicht. Vielleicht bedeutete es nichts anderes, als dass er ständig nur Zeichentrickfilme von »Caspar, dem freundlichen Gespenst« spielte.
    »Kann ich irgendwas tun?«
    »Ich bring das schon in Ordnung«, sagte Lyle, aber besonders überzeugt wirkte er dabei nicht.
    »Sind Sie sicher?«
    »Wenn ich zitieren darf: ›Philosophie lähmt eines Engels Schwingen, entzaubert die Mysterien durch Regel und Vernunft, macht prickelnd Luft zu schalem Hauch.‹«
    »Philosophie?«
    Lyle nickte. »Philosophie, mit Ph am Anfang, nicht mit F.«
    »Das gefällt mir.«
    »Das ist Keats.«
    »Sie zitieren Keats?« Jack lachte. »Lyle, ich glaube, Sie sind der weißeste Schwarze, den ich je kennen gelernt habe.«
    Jack hatte mit einem Lachen als Reaktion gerechnet, doch Lyles Miene verdüsterte sich schlagartig.
    »Wie bitte? Sie meinen, ich sei kein echter Schwarzer, nur weil ich John Keats kenne? Weil ich gebildet bin? Sind nur Weiße gebildet? Können nur Weiße Keats zitieren? Echte Schwarze zitieren Ice-T, ist es das? Bin ich etwa kein echter Schwarzer, weil ich mich nicht kleide wie ein Zuhälter und nicht in einem Gangsterschlitten fahre oder mich nicht mit Goldketten behänge und nicht auf meiner Veranda sitze und Bier saufe?«
    »Hey, sachte. Ich hab doch nur …«
    »Ich weiß, was Sie haben, Jack. Sie haben reagiert wie jemand, der, nur weil er schon mal MTV einschaltet, zu wissen glaubt, was es heißt, ein Schwarzer zu sein. Und wenn der Betreffende diesem Image nicht entspricht, dann muss er ein ›Oreo‹ sein, ein Schwarzer zwar, aber innerlich weiß. Wie ein Keks mit Cremefüllung. Mit dieser Meinung stehen Sie nicht allein. Viele Schwarze betrachten mich genauso. Sogar mein eigener Bruder. Vergesst es – Sie und er und alle anderen. Dies ist zwar eine Welt der Weißen, aber nur weil ich in dieser Welt mein Ding durchziehe, will ich noch lange kein Weißer sein. Ich habe vielleicht keinen akademischen Titel, aber ich habe genügend Kurse besucht, um mich für einen zu qualifizieren. Ich bin ebenfalls gebildet. Dass ich keine Negerwissenschaften studiert habe, macht mich noch lange nicht zum Wunschweißen. Und nur weil ich was dagegen habe, mich auf den kleinsten schwarzen Nenner reduzieren zu lassen, bin ich noch lange kein Onkel Tom.«
    »Wow!« Jack hob beide Hände zu einer abwehrenden Geste. Er kam sich vor, als wäre er auf eine Mine getreten. »Tut mir Leid. Ich wollte Sie nicht beleidigen.«
    Lyle schloss die Augen und holte tief Luft. Als er wieder ausatmete, sah er Jack an. »Ich weiß. Meine Reaktion war wohl auch ein bisschen heftig. Dafür entschuldige ich mich.«
    »Mir tut es Leid. Ihnen tut es Leid.« Jack erhob sich und reichte ihm die Hand. »Ich denke, damit sind wir quitt, okay?«
    »Wir sind quitt.« Lyles Lächeln wirkte ziemlich verlegen, während er Jacks Hand ergriff und sich verabschiedete. »Bis morgen. Dann liegt hier auch die erste Hälfte Ihres Honorars für Sie bereit.«
    Jack leerte seine Bierflasche, ging hinaus und machte sich im Geiste eine wichtige Notiz: Lyle Kenton = hochexplosiv.
     
     

7
     
    Sobald die Tür hinter Jack zugefallen war, packte Lyle Charlie am Arm und zog ihn in Richtung Fernsehzimmer hinter sich her.
    »Das musst du sehen.«
    Charlie riss seinen Arm los. »Hey, was ist los mit dir, Bruder? Warum hast du Jack so heftig angemacht?«
    Lyle tat es im Nachhinein aufrichtig Leid. Jack hatte wie ein Weißer geredet, und er hatte sofort rot gesehen.
    »Ich bin ein wenig gereizt, okay? Na schön, dann eben sehr gereizt. Ich habe mich entschuldigt, oder nicht?«
    »Bist du wütend auf ihn, weil er von Werten gesprochen hat, die man zurückgeben sollte?«
    »Nein. Natürlich nicht.«
    Er war nicht wütend, aber es hatte ihn getroffen. Vielleicht hatte er sich deshalb über die Bemerkung vom »weißesten Schwarzen« aufgeregt.
    Lyle machte sich nichts vor. Er war ein Bauernfänger, aber er war kein Schurke. Er machte sich nicht an Leute heran, die es sich nicht leisten konnten – keine

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