HMJ06 - Das Ritual
armen Witwen und so weiter. Die Fische, die er einfing, waren gelangweilte Millionenerbinnen, neureiche Künstler, Yuppies, die nach einem neuen Nervenkitzel suchten, und betuchte Witwen, die mit ihren eingegangenen Schoßhunden im Jenseits kommunizieren wollten. Sie gaben wahrscheinlich während eines Trips nach Las Vegas oder für einen Pelzmantel oder einen Brillanten oder für das, was gerade als neuestes Statussymbol propagiert wurde, viel mehr Geld aus – wie so viele seiner Klienten, die niemals ihre eigene Küche benutzten und stattdessen ständig auswärts aßen, aber um jeden Preis einen Sub-Zero Kühlschrank haben mussten.
»Und warum hast du diesen verdammten Fernseher behandelt, als hätte er von der CIA die höchste Geheimhaltungsstufe verpasst bekommen?«
»Weil er allein unsere Angelegenheit ist. Nicht seine.«
Mehr noch. Er wollte Jack nicht mit einem ihrer geringeren Probleme von seinem eigentlichen Job ablenken. Er sollte sich nur darum kümmern, Madame Pomerol aus ihrem Leben zu entfernen, das war im Augenblick das Wichtigste.
»Sieh mal.«
Er zog Charlie zur Türöffnung und blieb stehen. Er ließ ihn einen Blick auf das Basketballspiel werfen, das soeben auf der Mattscheibe lief.
»Hey, die Zeichentrickfilme haben aufgehört. Was hast du getan?«
»Nichts. Er hat sich von selbst eingeschaltet.« Er beobachtete das Gesicht seines Bruders. »Okay. Du hast es bemerkt. Was siehst du sonst noch?«
Sein Blick senkte sich auf den Fußboden. »Alle möglichen gedruckten Schaltungen und anderen technischen Kram.« Er sah Lyle von der Seite an. »Hast du etwa meine Sachen durcheinander gebracht?«
Lyle schüttelte den Kopf. »Das ist das Innenleben des Gehäuses.«
»Das Innenleben?«
»Hm-hm. Ich habe die Kiste auseinander genommen, nachdem du dich auf die Socken gemacht hast. Sie ist jetzt so gut wie leer. Bis auf die Bildröhre ist nichts mehr drin. Trotzdem läuft die Glotze. Und sie hängt außerdem noch immer nicht an der Steckdose.«
Er sah, wie Charlies Adamsapfel auf und nieder hüpfte, während er krampfhaft schluckte. »Du erlaubst dir jetzt einen Spaß mit mir, oder nicht?«
»Ich wünschte, es wäre so.«
Lyle hatte den größten Teil des Tages Zeit gehabt, sich an das verrückte Verhalten ihres Fernsehers zu gewöhnen, doch ihn vor sich zu sehen, verursachte noch immer ein unangenehmes Rumoren in seinen Eingeweiden.
»Hey«, sagte Charlie schleppend, während er auf den Bildschirm starrte. »Wer spielt da?« Er kam einen Schritt näher. »Das sieht aus, als wäre das … nein, er ist es – Magic Johnson mit den Lakers.«
»Hast du’s endlich erkannt?«
»Welchen Kanal hast du … Sports Classics?«
Lyle reichte ihm die Fernbedienung. »Schalt auf andere Kanäle um. Und sieh dir an, was passiert.«
Charlie gehorchte und landete bei CNN, wo zwei sprechende Köpfe über Irangate diskutierten.
»Irangate? Was ist das denn?«
»Etwas, das aktuell war, als du noch viel zu jung warst, um dich für so was zu interessieren.« Lyle konnte sich selbst kaum daran erinnern. »Aber zapp nur weiter.«
Die nächste Station war eine löwenmähnige Blondine, die so heftig weinte, dass ihr das Make-up die Wangen hinabrann.
Charlie riss die Augen weit auf. »Ist das nicht …? Wie heißt sie noch?«
»Tammy Faye Baker«, sagte Lyle. Er hatte zwar gewusst, was kommen würde, aber trotzdem hatte er das Gefühl, als wäre sein Mund trocken wie Pergament. »Mach weiter.«
Dann folgte ein Footballmatch. »Hey, die Giants. Aber das sieht aus, als läge Schnee auf den Seitenlinien.«
»So ist es«, sagte Lyle. »Und achte mal auf den Quarterback.«
»Simms? Spielt Simms nicht schon lange nicht mehr?«
»Eine halbe Ewigkeit. Weiter.«
Er wurde jetzt schneller, kam zu einer Nachrichtensendung, in der über die Bork-Nominierung berichtet wurde, dann folgte ein Kinomagazin mit einer Besprechung von Rain Man, danach sah er einen Dukakis-for-President-Werbespot, und schließlich tanzten bei MTV zwei Typen mit schulterlangen Dreadlocks über den Bildschirm.
»Milli Vanilli?«, rief Charlie aus. »Milli Vanilli! Das ist ja wie in Raumschiff Enterprise, Mann. Haben wir so was wie einen Zeitsprung gemacht?«
»Nein, wir nicht, aber der Fernseher. Alles, was diese Kiste bringt, stammt aus den achtziger Jahren.«
Lyle stand neben seinem Bruder und sah zu, wie Milli Vanilli ihre Locken schüttelten und mit den Lippen »Girl, you know it’s true« formten. Er hörte jedoch so gut wie nichts. Im
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