Hochgefickt
Performance, Musik, Videoinstallationen. Ein paar WG-Mitbewohner von Jens hatten dieses Etablissement ein Jahr zuvor gegründet und waren nun unaufhaltsam dabei, mit ihrem ungewöhnlichen Restaurantkonzept die neuen Stars der Amsterdamer Szene zu werden, und dass Jens’ »Potemkinsche Dörfer« dort die Wände ab Oktober (wenn die aktuelle Ausstellung vorbei war) schmücken sollten, freute mich sehr für ihn. Während wir auf den zweiten Gang warteten und zur Musik des DJs den an die Decke projizierten 70er-Jahre-Super-8-Film ruckeln sahen, schweiften meine Gedanken ab, und allein schon die Vorstellung, in 24 Stunden bereits wieder als Lina Legrand in Köln zu drehen, erzeugte in diesem Moment körperlichen Widerwillen: Es schüttelte mich.
»Ist dir kalt?«, fragte Jens, in dessen Arm ich lag.
»Neinnein«, sagte ich, »ich musste nur an morgen denken.«
»Und warum schüttelt es dich beim Gedanken daran? Was steht denn morgen an?«, wollte er wissen. Ich war viel zu entspannt, um mich zu verstellen.
»Ich muss morgen wieder Lina Legrand sein,« seufzte ich, »aber ich fühl mich hier gerade so wohl als Jacqueline.«
Jens lächelte, drehte meinen Kopf sanft zu sich und gab mir einen Kuss. »Mir gefällt das Yak auch viel besser!«, fügte er noch an und strich mir dabei über die Haare. Yak war sein Spitzname für mich, nicht nur aufgrund der optischen Ähnlichkeit, die ich seiner Meinung nach in meiner zotteligen Wohlfühl-Lieblingsstrickjacke mit diesen Tieren hatte, sondern auch in Anlehnung an meinen echten Vornamen.
Ich schmolz dahin und lächelte selig zurück, blickte dann aber wieder zum Film an der Decke, denn ihm den folgenden Satz ins Gesicht zu sagen, traute ich mich nicht. Andererseits musste es definitiv raus, weil ich sonst geplatzt wäre, also artikulierte ich halblaut: »Ich weiß wirklich nicht, wann ich das letzte Mal so entspannt und so glücklich war wie in den letzten Tagen!«
Jens ließ sich dermaßen viel Zeit mit seiner Reaktion, dass ich mir schon unsicher war, ob er mein Geständnis überhaupt gehört hatte. Die Musik lief auch nicht gerade leise, also drehte ich ihm nach einer gefühlten halben Ewigkeit wieder mein Gesicht zu, um mal dezent nachzusehen, was bei ihm so Sache war. Anscheinend hatte er genau darauf gewartet, und er war offensichtlich mutiger als ich. Er blickte mir nämlich ruhig und fest in die Augen, als er sagte: »Und ich hoffe wirklich sehr, dass ich das auch wieder so wunderbar mit dir teilen darf, wenn du dich das nächste Mal so fühlst …«
Als wir am nächsten Tag wieder in Köln ankamen, war ich wie auf Drogen, nur viel besser, und dieser Zustand blieb auch trotz Lina-Legrand-Alltagsstress erstaunlich lange bestehen. Um genau zu sein: exakt bis zum 31. August.
Ich hatte Jens an diesem Morgen um halb vier zum Flughafen gefahren, weil er sich einige Stunden später am Hafen von Rhodos mit den Kumpels seiner alten Segel-AG zum jährlichen Törn treffen wollte, und da wir vor der Fahrt zum Airport nicht geschlafen hatten, fuhr ich danach schnurstracks in meine Wohnung und in mein Bett. Seit wir aus Holland zurück waren, hatte ich trotz aller Endorphindröhnung das Gefühl, dass meine Müdigkeit irgendwie chronisch zu werden schien. Vielleicht stimmte ja irgendwas nicht mit mir, und ich beschloss, mich nach Abschluss der Dreharbeiten bei Reza mal durchchecken lassen – vorsichtshalber.
Als um 12.20 Uhr mein Wecker klingelte, riss mich das aus kruden Träumen, die mir aber ganz seltsam real vorkamen. In den letzten dreiundzwanzig Jahren hatte ich zwar immer besser gelernt, zwischen Traum und Realität zu unterscheiden, aber trotzdem geschah es manchmal, dass mich diese Träume so schräg drauf brachten, dass ich keine Ruhe hatte, bis ich mich davon überzeugt hatte, dass das auch ganz sicher nur ein Traum gewesen war. Beispielsweise musste Renate mir ein halbes Jahr zuvor während eines Telefonates mehrfach versichern, dass sie sich nicht das Bein gebrochen hatte und dass Günther auch nicht bei der Jagd von einem Wildschwein angegriffen worden war.
Nun war ich wieder in einer ähnlichen Situation, und ich wusste, dass ich meinen freien Sonntag nicht genießen könnte, wenn ich dieses Hirngespinst nicht durch baldigen Abgleich mit der Realität vertreiben würde. Also warf ich mir meinen braunen Nikab über, den ich für Alltagsbesorgungen immer mehr zu schätzen gelernt hatte, und stiefelte schlaftrunken zur nächsten Notdienst-Apotheke. Ich wunderte
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