Hochsaison. Alpenkrimi
Würde der
Psychiater oder Neurologe nicht sofort riechen, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung war?
Er hatte seit einem ganzen Jahr keinen schwereren, mehr als ein paar Sekunden andauernden Anfall mehr gehabt, er hatte die Attacken immer in Griff bekommen, wenn sie sich ankündigten, und sie auf Sekunden oder Sekundenbruchteile reduzieren können. Wenn er in Stress gekommen war, weil er zu viel gearbeitet hatte, hatten die Alarmglocken in seinem Kopf geschrillt, dann wusste er, dass er schnell und beherzt gegenzusteuern hatte. Er musste von einer Sekunde auf die andere alles stehen und liegen lassen und sich entspannen, entspannen, entspannen. Denn wenn er einen Anfall zuließ, dann wurde aus dem Film um ihn herum ein Fotoalbum, und er hatte keine Möglichkeit, die Geschwindigkeit des Blätterns in diesem Fotoalbum zu beeinflussen. Er konnte am normal dahinströmenden Leben nicht mehr teilnehmen. Gerade vorhin bei der Besprechung im Dienstzimmer hatte er solch eine Sekunden-Attacke erlitten. Maria war aufgestanden, um nach der Kaffeekanne zu greifen. Ihr Oberkörper befand sich quer über dem Tisch, als das Bild stehen blieb, ein Schnappschuss, ein erschreckender Stillstand der Welt. Marias bunter Schal hatte sich etwas gelöst und schwebte nun frei in der Luft. Jennerwein hörte, wie sich Stengele nach seinem Befinden erkundigte, wie die anderen weiterredeten, er hatte auch gehört, dass Maria den Kaffee geräuschvoll in die Tasse goss und danach begann, ebenso geräuschvoll umzurühren – das festgefrorene Standbild passte überhaupt nicht dazu. Erst im nächsten Cartoon saß Maria wieder am Tisch, es schien so, als wäre sie mit einem Ruck dort hingesprungen. Langsam begann sich die Welt um ihn herum in gewohnter Weise zu bewegen, und die Geräusche passten nach und nach zu den Bildern. So konnte es nicht weitergehen. Er musste sich unbedingt der Psychologin offenbaren. Nach dem Abschluss dieses Falls.
Am Klinikum wartete der glatzköpfige Chefarzt schon auf ihn, Jennerwein hatte sich telefonisch angemeldet.
»Kommen Sie herein«, sagte der Arzt. »Ich habe mir schon gedacht, dass Sie irgendwann einmal hier auftauchen würden. Sie kommen wegen Sørensen, nicht wahr?«
»Ja, ich habe noch ein paar Fragen.«
»Wollen Sie ihn sehen?«
»Wenn das möglich ist, gerne.«
»Kommen Sie mit.«
Beide schritten die verwinkelten Krankenhausgänge entlang, durch die Fenster konnte man manchmal einen Blick auf die Skischanze erhaschen. Der Chefarzt hatte wohl den einen oder anderen Blick Jennerweins bemerkt.
»Von der Psychiatrie aus sieht man die Schanze am besten«, sagte er lächelnd.
Die Psychiatrie schon wieder.
»Wie weit ist die Schanze denn entfernt, wenn man auf einem dieser Balkone steht?«
Der Chefarzt grinste nachsichtig. »Ich glaube nicht, dass es irgendwo auf der Welt eine psychiatrische Station mit Balkonen gibt.«
»Ach so, verstehe. Aber wie weit ist es denn nun von hier bis zur Schanze?«
»Vielleicht tausend oder fünfzehnhundert Meter. Warum wollen Sie das wissen?«
»Nur interessehalber. Wieso ist Sørensen noch hier, nach all den Monaten?«
»Er ist nicht transportfähig.«
»Wann wird er transportfähig sein?«
Der Chefarzt sagte nichts. Also nie mehr, dachte Jennerwein, und schämte sich sofort für diesen Gedanken.
»Ich habe nur noch eine Frage an Sie«, sagte er. »Ist Ihnen eine Verletzung aufgefallen, die nicht vom Sturz selbst herrührt?
Es müsste eine Verbrennung sein, eine Hautrötung, wie sie entsteht, wenn man einen Laserstrahl darauf richtet.«
»Einen Laserstrahl? Wie kommen Sie denn da drauf?«
»Ich kann es eingrenzen, die Verletzung müsste am linken Bein zu finden sein.«
»Am linken Bein? Eine Verletzung durch Laserbestrahlung?«
»Ja, höchstwahrscheinlich.«
»Ausgerechnet das linke Bein haben wir ihm gleich nach dem Unfall abgenommen. Es war nicht mehr zu retten.«
»Das wusste ich nicht.«
»Das waren noch Zeiten, als die Polizei alles wusste.«
»Und wurde es untersucht, das Bein?«, antwortete Jennerwein, ohne auf die Spitze einzugehen.
»Wenn Sie das Bein gesehen hätten, würden Sie das nicht fragen. Soll ich Ihnen Details schildern? Wenn Sie darauf bestehen, kann ich das tun. Aber bei uns im OP ist selbst den ganz hart gesottenen Kollegen schlecht geworden.«
»Es wurde also nicht untersucht.«
»Es wurde im Rahmen der üblichen gerichtsmedizinischen Routine durchgecheckt, nach Schusswunden wurde zum Beispiel gesucht, nach Kleinstverbrennungen
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