Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
Anflug von Resignation gesagt.
»Leider«, war Moritz am Telefon herausgerutscht. Eigentlich stand er hinter den Rechten, die einem Beschuldigten zustanden. Dazu gehört auch, dass sich niemand selbst belasten musste. Egal, was ihm vorgeworfen wurde. Für jeden galt zuallererst eine allgemeine Unschuldsvermutung. Es war Sache der Polizei und der Staatsanwaltschaft, Beweise wie Entlastendes gleichermaßen zu sammeln, um einen Täter zu überführen und das Gericht von seiner Schuld zu überzeugen. Natürlich war es hilfreich, wenn der Verdächtige dabei ein Geständnis ablegte oder wenigstens eine Aussage machte. Aber dies war der Idealfall. Es würde schwierig werden, Lars Kaufmann eine Tatbeteiligung nachzuweisen, wenn keine eindeutigen Spuren gefunden wurden. Möglicherweise würden die Gerichtsmediziner genetisches Spurenmaterial von Kaufmann an der Leiche finden. Wenn es nur endlich einen entscheidenden Hinweis geben würde. Er griff erneut zum Telefonhörer und wählte die Nummer von Anja Kobers Mobiltelefon. Nachdem das Freizeichen ertönte, wurde das Gespräch weggedrückt. Verärgert legte er auf. Kurze Zeit später klingelte der Apparat. Am anderen Ende meldete sich Anja.
»Entschuldige, bitte, ich wollte das Gespräch nicht im Sektionsraum annehmen.«
»Kein Problem. Wisst ihr schon Näheres?«
»Ein wenig. Einer der Pathologen ist sich sicher, dass das Kind, übrigens ein Mädchen, erstickt wurde. Die Lunge wird gerade zum zweiten Mal untersucht, um letzte Zweifel auszuräumen. Außerdem wird das Gebiss mit den Röntgenaufnahmen des Zahnarztes von Manuela verglichen.«
»Meinst du, die Mediziner kommen heute noch zu einem Ergebnis?«
»Bestimmt«, sagte Anja. »Ich rufe dich auf jeden Fall an, sobald wir mehr wissen.«
Moritz machte sich auf den Weg zu seinem Vorgesetzten.
»Ach, übrigens, Kepplinger«, sagte Brandstätter, nachdem er von Moritz über den Fortschritt der gerichtsmedizinischen Untersuchung aufgeklärt worden war. »Das mit den Überwachungskameras funktioniert.«
»Was heißt das?«
»Na, dass wir heute Nachmittag sämtliche Vorgänge der letzten zehn Tage auf dem Tisch haben.«
»Wie haben Sie denn das geschafft?«.
Der Chef grinste wie ein kleiner Junge nach einer bestandenen Mutprobe.
»Einer der Vorteile, wenn man mit dem Leiter des Ordnungsamtes am Stammtisch sitzt«, erklärte er stolz.
Das Gespräch mit den beiden Kriminalbeamten ging ihm nicht aus dem Kopf.
Hätte jemand einen Grund, Ihrer Tochter etwas anzutun?
Die Frage des jungen Kommissars beschäftigte ihn. Die Vorstellung, die ihn dabei quälte, war so abwegig, dass Jessen sich selbst für verrückt erklärte. Der Mann, an den er dachte, konnte Manuela nicht kennen. Er hatte sie nie zu Gesicht bekommen und konnte nichts von ihrer Existenz wissen. Seine Befürchtungen waren reiner Wahnsinn. Raserei. Völlig un möglich.
Je mehr er sich bemühte, den Verdacht abzuschütteln, umso größer wurde sein Argwohn.
Er schraubte die Whiskyflasche auf, goss sich ein Wasserglas halb voll und hoffte so, auf andere Gedanken zu kommen. Aber die Erinnerung an das, was passiert war, und die damit verbundenen Schuldgefühle waren stärker als die Wirkung des Alkohols.
Wenig später übergab er sich das erste Mal. Er betrachtete sich im Spiegel und erschrak.
Du hast Angst, sagte er zu seinem Spiegelbild. Die nackte Angst, dass deine Albträume wahr werden könnten.
Vielmehr: schon wahr geworden sind, verbesserte er sich.
Anschließend setzte er sich in die Küche und goss sich erneut das Glas ein, diesmal randvoll. Den Schatten, der für den Bruchteil einer Sekunde am Küchenfenster vorbeihuschte, nahm er nicht wahr.
Der Eingang zur Bußgeldstelle des Ordnungsamts befand sich versteckt in einem engen Hinterhof der Göppinger Altstadt. Soll wohl so sein, dachte Kepplinger. Schließlich waren Bußgeldverfahren an sich schon etwas Unangenehmes. Jemand, der sich persönlich über einen entsprechenden Bescheid beschwerte, war sicherlich der Albtraum der Angestellten. Nach längerem Suchen fand er endlich die Eingangstür. Der Behördenleiter überreichte ihm einen großen Umschlag.
»Bestellen Sie Ihrem Chef die besten Grüße und richten Sie ihm aus, dass ich jetzt bei ihm was gut habe.«
Kepplinger bedankte sich.
»Vielleicht haben Sie ja Glück«, verabschiedete sich der Amtsleiter und schloss die Tür, bevor Moritz etwas darauf erwidern konnte.
»Hoffen wir es«, murmelte er und machte sich auf den Rückweg zur
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