Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
zu schnarchen an.
»Zeit, dass wir gehen«, sagte Moritz und machte sich auf den Weg. An der Tür drehte er nochmal um, ging zurück ins Wohnzimmer, nahm die Trauerkarte und einige der heil gebliebenen Fotografien an sich.
»Man weiß ja nie«, sagte er, als er an Lea vorbei in den Flur ging.
Alexander Giebel stand wie benebelt in der Empfangshalle der Klinik und wartete auf das Eintreffen des Kriminalkommissars und seiner Kollegin.
Zu Beginn des Telefonats war er gegen den Überraschungsbesuch der Polizei gewesen. Aber nachdem Kepplinger ihm seine Beweggründe erklärt hatte, hatte er zugestimmt. Seine Patientin war seit dem Morgen in einer außergewöhnlich guten Verfassung. Bei der Visite hatte sie ihn angelächelt und mit Herr Doktor begrüßt. Daraufhin hatte er entschieden, die Dosierung der Beruhigungsmittel weiter herabzusetzen und sie erst am Nachmittag mit der Todesnachricht zu konfrontieren. Aber jetzt war alles anders. Die Tatsache, dass die einzige Tochter seiner Patientin einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, übertraf all seine Befürchtungen. Und er wusste nicht mehr, wie er sich angesichts dieser Entwicklung, richtig verhalten sollte. Natürlich war es wichtig, dass der Mörder gefasst wurde. Womöglich konnte die Mutter einen wesentlichen Beitrag leisten. Andererseits war er für ihren Gesundheitszustand verantwortlich. Das Gespräch würde anstrengend werden. Er nahm sich vor, die Unterhaltung bei der geringsten Verschlechterung ihres Wohlbefindens abzubrechen.
Der Knoten in seinem Bauch drohte jeden Moment zu platzen. Moritz gelang es nur mit Mühe, seine innere Anspannung zu verbergen. Zudem hatte das Zittern seiner rechten Hand wieder begonnen. So oft es ging, steckte er sie in seine Hosentasche oder hielt sie mit der anderen Hand fest. Er ertappte sich bei dem Gedanken, dass es ein Riesenfehler gewesen war, als er gegen Ende des Studiums die Entscheidung getroffen hatte, künftig im Bereich von Kapitalverbrechen ermitteln zu wollen. Aber jetzt war definitiv der falsche Zeitpunkt, sich darüber zu beschweren.
Der nächste Schritt ist der richtige.
Er zwang sich dazu, wieder an den Fall zu denken. Seit dem Hinweis von Claudia Behrens und seitdem er die Trauerkarte gefunden hatte, überschlugen sich die Ereignisse. Natürlich war es möglich, dass sie sich auf einem Irrweg befanden. Doch jetzt hatten sie eine interessante Querverbindung im Umfeld der Familie entdeckt, der sie unbedingt nachgehen mussten. Ein zehnjähriges Mädchen war vor sechzehn Jahren ums Leben gekommen, auf den Tag genau, an dem die gleichaltrige Manuela Jessen nicht nach Hause gekommen war.
Wer war Lisa Sander? War sie die Tochter des Mannes, der in Geislingen eine Scheune gepachtet hatte? Und woran war das Mädchen gestorben? Noch konnte er sich keinen Reim auf einen Zusammenhang machen, spürte aber, wie er plötzlich mit einer Flut von Fragen überschwemmt wurde, die alle von Bedeutung sein konnten. Wer war dieser Sander, von dem Nils Schubart erzählt hatte? In welcher Beziehung stand er zu Gerd Jessen? Was hatte es mit den Beobachtungen des Landwirts auf sich? Warum verbrannte jemand mitten in der Nacht einen Schuh? Er benötigte dringend die Antworten auf all diese Fragen. Die wenigen Fragmente, die sie hatten, ergaben kein Bild. Aber Moritz ahnte, dass er etwas Wichtiges entdeckt hatte.
Er kannte dieses Gefühl. In den meisten Fällen kam die Wende überraschend. Mit einem Mal häufte sich die Anzahl von Hinweisen und Zusammenhängen.
Seine Anspannung stieg erneut, als sie auf den Besucherparkplatz der Klinik fuhren. Lea Thomann öffnete die Beifahrertür.
»Warte, mir ist gerade noch etwas eingefallen.«
Kepplinger griff nach seinem Telefon. Am anderen Ende meldete sich Anja Kober.
Er berichtete knapp, in welcher Verfassung Gerd Jessen gewesen war und was sie vorhatten.
»Versucht herauszufinden, was mit diesem Mädchen passiert ist und in welcher Beziehung sie zu Jessen stand. Das könnte verdammt wichtig sein!«
Anja Kober notierte sich die nötigen Daten.
»Ackermann soll mit Schubart oder Schwarz zu dieser Scheune fahren und nochmal mit dem Bauern sprechen!«
»In Ordnung!«
»Wenn ihr etwas herausgefunden habt, gebt mir sofort Bescheid!«
Susanne Jessen saß erwartungsvoll am Tisch ihres Krankenzimmers, als die beiden Polizeibeamten in Begleitung des Arztes den Raum betraten. Alexander Giebel hatte sie auf den Besuch vorbereitet.
»Haben Sie meine Tochter gefunden?«, erkundigte sie sich,
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