Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
ohne den Gruß der Beamten zu erwidern.
Kepplinger suchte nach den passenden Worten. Er sah sich gezwungen, ihr die Wahrheit zu verschweigen.
»Nein, Frau Jessen. Es tut mir leid, dass ich Ihnen heute Morgen nichts anderes berichten kann.«
»Aber das ist doch nicht möglich! Warum unternimmt denn die Polizei nichts?«, rief sie aufgeregt. Der Arzt trat neben sie und sprach beruhigend auf sie ein.
»Frau Jessen, bitte. Ich bin mir sicher, dass die Polizei alles tut, was in ihrer Macht steht. Aber Herr Kepplinger und Frau Thomann möchten etwas anderes mit Ihnen besprechen.«
Sie schien sich tatsächlich zu beruhigen.
»Was denn?« Ihre Frage klang abwertend. Was konnte es für die Polizei anderes geben, als ihre Tochter zu finden. Stillschweigend musste Kepplinger ihr Recht geben. Aber letztlich ging es darum, den Mörder von Manuela zu finden. Auch das konnte er ihr zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen.
»Frau Jessen, es geht um Ihren Exmann«, lenkte er das Gespräch vorsichtig auf das sensible Thema.
»Was soll mit ihm sein?«
Er beschloss, den Hinweis von Claudia Behrens direkt anzusprechen.
»Wir haben herausgefunden, dass es in seinem Leben einen Vorfall gab, der ihm bis heute zu schaffen macht. Können Sie sich daran erinnern?«
Sie starrte ihn misstrauisch an.
»Warum wollen Sie das wissen? Was hat das mit Manu zu tun?«
Wieder schaltete sich Alexander Giebel in das Gespräch ein. »Bitte versuchen Sie, die Frage zu beantworten.«
Moritz warf dem Arzt einen dankbaren Blick zu. Eine betretene Stille machte sich im Raum breit.
»Also gut.« Susanne Jessen hielt krampfhaft die Augen geschlossen, als ob sie die Ereignisse erst in die Gegenwart holen müsste. »Das war furchtbar damals«, begann sie schließlich. Immer noch hielt sie die Augen geschlossen, während sie sprach. »Wir hatten mit Freunden einen Sonntagsausflug gemacht. Zu dieser Burgruine in der Nähe des Filsursprungs. Warten Sie, mir fällt der Name nicht ein.«
»Reußenstein«, sagte Lea Thomann, die sich an eine Mountainbike-Tour in der Gegend erinnerte.
»Ja, genau. Wir waren zum Picknick dort, und die Kinder haben in der Nähe Verstecken gespielt.«
Ihrem Gesicht konnte man ablesen, wie schmerzhaft die Erinnerung war.
»Eines der Mädchen, Lisa, die Tochter unserer Freunde, ist dann aus einem der Fenster der Burg gestiegen, um sich auf einem schmalen Felsvorsprung zu verstecken, und dann ist sie in die Tiefe gestürzt. Mein Mann hatte ihr das Versteck gezeigt …« Susanne Jessen begann zu schluchzen. »Oh, mein Gott, das war so schrecklich, als wir sie endlich gefunden haben.« Tränen liefen über ihre Wangen. Alexander Giebel hielt beruhigend ihre Hand. Endlich sprach sie weiter. »Gerd hat sich diesen Vorfall nie verziehen. Das Schlimmste für ihn war, dass der Vater des Kindes von dem Tag an kein Wort mehr mit ihm gesprochen hat. Gerd hat tausendmal versucht, sich bei ihm zu entschuldigen.«
»Erinnern Sie sich an den Namen des Mannes?«, erkundigte sich Kepplinger.
»Natürlich. Erich und seine Familie gehörten zu unserem engsten Freundeskreis.«
»Erich Sander?«
»Ja, genau.« Susanne Jessen überlegte wieder einige Augenblicke. »Erich war einige Zeit hier, in dieser Klinik und brach die Therapie dann aber nach ein paar Monaten auf eigene Ver antwortung ab. Seine Ehe ist in die Brüche gegangen, und wir haben uns aus den Augen verloren. Erich ist von heute auf morgen weggezogen. Gerd hat ihn lange Zeit gesucht. Von dem Tag an ist Erich auch nicht mehr in den Kegelclub gekommen. Ich habe hin und wieder noch mit seiner ehemaligen Frau telefoniert. Aber dann ist auch dieser Kontakt abgebrochen.«
»Erinnern Sie sich daran, wann der Unfall passiert ist?«
»Ja, das weiß ich sogar noch sehr genau. Es war Sonntag, der 20. Juli 1997.«
Kepplinger gab dem Arzt zu verstehen, dass er keine weiteren Fragen hatte. Sie verabschiedeten sich von Susanne Jessen und verließen das Zimmer. Alexander Giebel kümmerte sich um seine Patientin.
Auf dem Flur holte Kepplinger sein Telefon hervor und wählte die Nummer der Dienststelle. Er bemerkte, wie seine Hand zu zittern begann. Wütend steckte er sie in die Hosentasche. Salvatore Falcone ging an den Apparat.
»Accidenti! Moritz, wo seid ihr?«
»In der Klinik. Hör mir bitte genau zu. Ihr müsst diesen Erich Sander überprüfen. Findet alles über ihn heraus. Wo er wohnt, was er macht, seine Telefonnummer.« Kepplinger überlegte kurz, was noch von Bedeutung sein
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