Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
das veranlasst. Die Diagnose lautete posttraumatische Belastungsstörung im Zusammenhang mit dem tödlichen Unfall seiner zehnjährigen Tochter ein paar Tage zuvor.« Alexander Giebel überflog einen längeren Absatz. »Dann ist hier der gesamte Unfallhergang aufgeführt. Die sachbearbeitende Dienststelle und so weiter …« Der Arzt kratzte sich am Ohr. »Gut. Also, warten Sie. Sander war insgesamt drei Monate in stationärer Behandlung. Offenbar hat sich sein Zustand, den die Kollegen in der Folge als psychotische Schizophrenie diagnostiziert haben, mit der Zeit verschlechtert.« Aufgeregt studierte er den nachfolgenden Text. »Hier steht, dass Sander während der Therapie immer wieder jemanden erwähnt hat, der in seinen Augen für den Tod seiner Tochter verantwortlich war …«
»Und dabei handelt es sich um Gerd Jessen?« unterbrach ihn Kepplinger.
»Das geht aus der Akte nicht hervor. Hier wird lediglich von einer Person aus dem engeren Umfeld der Familie berichtet.«
»Ja, aber der Aussage von Susanne Jessen nach muss er es sein«, stellte Lea Thomann fest.
Kepplinger nickte und warf einen Blick zu Alexander Giebel, der dasselbe dachte.
»Aber seitdem sind sechzehn Jahre vergangen. Und selbst wenn er es nach dieser Zeit noch auf Gerd Jessen abgesehen hat, welche Rolle spielt dann der Tod von Manuela?« Leas Stimme überschlug sich beinahe. »Sie war damals doch noch nicht einmal geboren?«
»Vielleicht eine Art Racheakt?«, schlug Alexander Giebel vor.
»Aber das wäre doch Wahnsinn!«, sagte Kepplinger.
»Sicher, aber ein denkbares Motiv, finden Sie nicht?«, antwortete der Arzt, der sich wieder der Krankenakte widmete. »Sander hat sich in den Therapiegesprächen immer mehr zurückgezogen und die Behandlung nach exakt einhundert Tagen auf eigene Verantwortung abgebrochen.«
»Geht das denn so einfach?« erkundigte sich Lea Thomann.
»Das ist durchaus möglich, solange sich jemand in der offenen Abteilung befindet und nicht akut suizidgefährdet ist«, erklärte der Arzt.
Kepplinger blätterte in seinem Notizbuch.
»Können Sie herausfinden, mit welchem Medikament Erich Sander in dieser Zeit behandelt wurde?«
Alexander Giebel suchte nach einem entsprechenden Vermerk. Kepplinger ahnte die Antwort bereits.
»Perphenazin.«
Er rieb sich mit beiden Handflächen die Stirn, dann blickte er in die Augen des Arztes.
»Dasselbe Medikament wurde dem Kind kurz vor seinem Tod verabreicht.«
Lea und der Arzt sahen ihn verblüfft an.
Wieder klingelte das Mobiltelefon. Moritz drückte die Sprechtaste.
»Commissario, du hattest nach Erich Sander gefragt?«
»Richtig. Habt ihr was herausgefunden?«
»Eine ganze Menge. Sander wohnt in Geislingen. Er arbeitet als Außendienstmitarbeiter bei einer Firma, die Industriekaffeemaschinen vertreibt.«
»Das hat Christian doch schon alles erzählt«, unterbrach er Salvatore.
»Momento, jetzt wird’s erst spannend. Sander beziehungsweise sein Handy war am vergangenen Freitag von elf bis halb zwei im Bereich der Süßener Funkzelle. Dann wieder am Samstag, zwischen fünfzehn und sechzehn Uhr dreißig. Am Sonntag von elf bis zwölf und nochmal am Montag, von sechzehn bis siebzehn Uhr dreißig.«
»Das klingt tatsächlich interessant«, erwiderte Kepplinger und blätterte in seinem Notizblock. Am Montag war er um diese Zeit mit den Kollegen der Hundestaffel auf dem Parkplatz vor der Schule gewesen.
»Noch was Commissario«, unterbrach ihn Falcone.
»Ja, schieß los!«
»Die Lebensgefährtin von Gerd Jessen hat sich gemeldet.«
»Und?«
»Sie war eine halbe Stunde, nachdem ihr sie angerufen habt, in der Wohnung von ihrem Freund.«
»Jetzt mach es doch nicht so spannend«, fiel ihm Kepplinger ins Wort.
»Gerd Jessen war nicht mehr da.«
»Was?«
Lea Thomann und Alexander Giebel sahen ihn überrascht an.
»Er war nicht mehr zu Hause. Sie sagt, er muss die Wohnung Hals über Kopf verlassen haben. Mobiltelefon, Schlüssel und Geldbörse liegen noch da, und sein Wagen steht in der Garage.«
»Das gibt es doch gar nicht.« Kepplinger sah auf seine Armbanduhr. »Jessen war vor einer Stunde noch stockbesoffen. Er kann unmöglich weit gekommen sein.«
»Nils und Anja sind schon dort und befragen die Nachbarn.«
»Gut«, sagte Kepplinger. »Wir kommen, sobald wir hier fertig sind. Und noch was, vergesst das mit der Scheune und dem Landwirt. Markus soll zu der Wohnung von Sander fahren. Sofort!«
»Da stimmt doch was nicht«, sagte Lea, nachdem Kepplinger
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