Hochzeit im Herrenhaus
Verwalter über die Ländereien geritten, und nun erhoffte er einen geruhsamen Lunch in der Gesellschaft der Damen. Vor allem sehnte er das Wiedersehen mit einer ganz bestimmten Dame herbei. Noch nie war er so frohen Mutes zurückgekehrt. Aber sobald er die Halle durchquerte, spürte er eine veränderte Atmosphäre.
Nein, das bilde ich mir nur ein, entschied er, als er aus seinem Schlafzimmer trat, wo er seinen Reitanzug mit einer für die Mahlzeit angemessenen Kleidung vertauscht hatte.
Was sagte Caroline, während ich gestern Nachmittag mit ihr und ihrem salbungsvollen Bruder zum Wagen ging?
Ach ja … Jetzt erinnerte er sich an den genauen Wortlaut.
“Nachdem man so lange ans Haus gefesselt war, ist es ein wahrer Segen, wieder frische Luft zu atmen. Um diese Jahreszeit genügen schon ein paar sonnige Stunden, und alles erwacht zu neuem Leben. Sogar die Luft in unseren vier Wänden erscheint mir viel angenehmer, seit das Kaminfeuer nicht mehr ständig brennt. Hast du in deinem Haus nicht auch diese neue Aura bemerkt, Deverel?
Mir
ist sie jedenfalls aufgefallen.”
Nun, vielleicht hatte sie nur gemeint, in Greythorpe Manor würde reinere Luft herrschen als in Fanhope Hall, wo die Schornsteine oft qualmten – besonders bei starken Ostwinden, so wie in den letzten Tagen. Aber der Viscount vermutete, die scharfsinnige Caroline – stets bereit, Ratschläge zu erteilen, wenn sie in einem Haushalt irgendwelche Mängel entdeckte – hatte sofort den Beginn einer deutlichen Verwandlung unter seinem Dach bemerkt. Ob ihr das gefiel, stand auf einem anderen Blatt.
Völlig unerwartet traf er die Person, die diese Veränderung bewirkte, in der Ahnengalerie an und blieb abrupt stehen. Ins Porträt seines Vaters vertieft, bemerkte sie seine Anwesenheit nicht. Und so konnte er sie ungestört betrachten.
Ohne jeden Zweifel bot sie einen reizvollen Anblick.
Und doch – wäre er ihr zum ersten Mal in einem fashionablen Londoner Salon begegnet, hätte er ihr wohl kaum einen zweiten Blick gegönnt. Ganz sicher hätte er ihr keine Aufmerksamkeit geschenkt, weil sie das gerade Gegenteil des Frauentyps darstellte, den er törichterweise bevorzugt hatte – blendende goldblonde Schönheiten ohne Witz und Verstand, aber warmherzig, sanft und anschmiegsam. Wie blind war er in all den Jahren gewesen, die Überzeugung zu hegen, er müsste einfach nur eine Frau heiraten, die seinen Kindern eine fürsorgliche, liebevolle Mutter sein würde – und dass sie auch
ihn
beglückte, wäre überflüssig …
Unwillkürlich lächelte er. Das tat er sehr oft in diesen letzten Tagen, ohne zu wissen, warum. O ja, so erstaunlich es nach der kurzen Bekanntschaft auch anmuten mochte – er erwog ernsthaft, Miss Annis Milbank zu ehelichen. Ausgerechnet er, der niemals handelte, ohne vorher gründlich zu überlegen … Und ihm war klar, dass er sich zu einer jungen Dame hingezogen fühlte, die sich von allen Frauen seines Bekanntenkreises unterschied. Wie auch immer, wenn er sie für sich gewinnen wollte, war äußerste Vorsicht geboten. Zum Beispiel war es unwahrscheinlich, dass ihr sein Heiratsantrag schmeicheln oder dass ihr die Aussicht, seine Viscountess zu werden, ein Jawort entlocken würde. Und wenn er sich nicht täuschte, bedeuteten ihr Geld und eine hohe gesellschaftliche Position ebenso wenig. Womöglich glaubte sie sogar, sein Interesse an ihrer Gesellschaft beruhe nur auf höflicher Gastfreundschaft. Auf den Gedanken, ihren künftigen Gemahl in ihm zu sehen, käme sie gar nicht. Wollte er erfolgreich um sie werben, musste er ungewöhnliche Mittel und Wege finden.
Entschlossen ging er zu ihr. “Welch eine angenehme Überraschung, dich hier zu finden, liebe Cousine! Hast du einen erfreulichen Vormittag erlebt? Oder hast du dich noch immer nicht von deinem Ärger erholt?”
“Ärger?” Misstrauisch wandte sie sich zu ihm. “Ich war nicht verärgert. Dazu würde viel mehr gehören als eine kleine Meinungsverschiedenheit. Und sei versichert, lieber Cousin, wenn ich mich
wirklich
ärgere, würdest du das sofort merken.”
Lachend warf er den Kopf in den Nacken, was sie mit einem anerkennenden Lächeln belohnte, bevor sie ihren Blick wieder auf das Porträt seines Vaters richtete. “Womit hat mein ach so liebevoller Erzeuger deine Aufmerksamkeit erregt?”
“Soeben dachte ich, welch eine Ironie es doch ist, dass ihm das Kind, das er niemals anerkannte, so ähnlich sieht.”
Das war ihm neu. “Ist das so?”
“O ja. Helen gleicht
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