Hochzeit im Herrenhaus
ihm zwar nicht wie ein Ei dem anderen, aber gewisse Züge um ihre Augen und Lippen weisen eindeutig auf die Vaterschaft hin. Das wirst du merken, wenn sie hierherkommt.” Um das Bild zu studieren, das neben dem Porträt des verstorbenen Viscounts hing, trat sie einen Schritt zur Seite. “Diesem jungen Gentleman siehst
du
sehr ähnlich, Cousin Deverel. Wer er ist, entsinne ich mich nicht, obwohl Sarah mir das bei unserem Rundgang durch das Haus sicher erklärt hat.”
“Nun, das ist unser verstorbener Onkel Henry, der in Grandpapas Fußstapfen treten sollte. Unglücklicherweise erlitt er einen tödlichen Reitunfall, und so erbte der jüngere, längst nicht so populäre Sohn den Titel.”
“Dein Vater?”
“Ganz recht, Cousine Annis. Von Anfang an wurde ihm sein älterer Bruder vorgezogen. Henry war größer, attraktiver und wesentlich liebenswerter, falls man diversen Aussagen glauben darf. Und so war es wohl unvermeidlich, dass mein Vater einen unstillbaren Groll entwickelte – insbesondere, nachdem er alle Erwartungen erfüllt und sogar die Frau geheiratet hatte, die für seinen Bruder bestimmt gewesen war. Seltsamerweise war die Ehe meiner Eltern, obwohl sie einander nicht besonders mochten, keine Katastrophe, aber auch nicht glücklich. Und so war es verständlich, dass er nach dem verfrühten Tod meiner Mutter eine zweite Gemahlin wählte, die seinen eigenen Vorstellungen entsprach. Ebenso begreiflich ist die Verbitterung, die ihn befiel, nachdem er den Eindruck gewonnen hatte, die Frau seiner Wahl würde ihn hintergehen.”
“Bis zu einem gewissen Grad bedauere ich ihn”, gab Annis zu. “Aber warum war er sich so sicher, dass Helen nicht von ihm stammte? In der Familie seiner zweiten Frau wurden immer wieder Kinder mit roten Haaren geboren. Wieso glaubte er so felsenfest, Helens Vater wäre jener junge Künstler, obwohl seine Gemahlin schwor, er würde sich irren?”
“Wer weiß?” Der Viscount zuckte die Achseln, und der feine Wollstoff seines untadelig geschnittenen Gehrocks spannte sich über den breiten Schultern. “Da ich meinem Vater niemals nahestand, versuchte ich gar nicht, seine Beweggründe zu erforschen. Soweit ich es beurteilen konnte, stellte er seine Pflicht immer vor sein Glück. Und eins muss ich ihm zubilligen – er scheute niemals vor seiner Verantwortung zurück, und er hinterließ sein Vermögen und seine Ländereien in bester Ordnung. Aber was seine persönlichen Beziehungen angeht …” Nachdenklich schüttelte er den Kopf.
“Seine zweite Ehe war wohl kaum der überwältigende Erfolg, den er erhofft hatte. Immerhin war meine Stiefmutter über zwanzig Jahre jünger als mein Vater. Allzu viel hatten sie sicher nicht gemein. Möglicherweise suchte er einfach nur eine Gelegenheit, die Frau loszuwerden, die er für eine Belastung hielt, und so beschuldigte er sie der Untreue. Zu jener Zeit besuchte ich ein Internat. Deshalb wusste ich nicht, was genau hier vorging. Darüber ist Sarah vermutlich etwas besser informiert. Jedenfalls glaube ich, er tat Helen und ihrer Mutter mit seinem Verhalten einen Gefallen. Helen musste wenigstens nicht die Launen eines Mannes ertragen, der allen Menschen in seiner Umgebung das Leben schwer machte. Das kann ich ihm am allerwenigsten verzeihen, Annis – die Art und Weise, wie er Sarah behandelte, die ihn in seinen letzten Jahren so aufopfernd pflegte. Und mich veranlasste er beinahe, auf mein Erbe zu verzichten, weil ich dieses Haus für ein Gefängnis hielt, nicht für ein
Heim.
Nun, zum Glück kam es nicht so weit. Endlich, nach so vielen Jahren, beginnen die Schatten der bösen Erinnerungen zu verblassen. Jetzt soll ein neues Glück in Greythorpe Manor einziehen, so wie zu den Lebzeiten meines Großvaters.”
Plötzlich bemerkte er den Blick der schönen graugrünen Augen, die ihn eindringlich und respektvoll musterten.
“Was für eine Hexe du bist, Annis Milbank”, bemerkte er lächelnd. “Du bringst mich dazu, viel mehr zu erzählen, als ich es eigentlich vorhatte. Aber wahrscheinlich hast du das alles schon von Nanny Berry erfahren.”
“Da irrst du dich”, protestierte sie, nachdem ihr der anklagende Unterton in seiner Stimme nicht entgangen war. “Deine alte Nanny interessierte sich viel mehr für deine Halbschwester Helen. Wie auch immer”, fügte sie hinzu, während der Gong erklang, der den Lunch ankündigte, “heute Nachmittag möchte ich mit dir sprechen, wenn du mir ein bisschen Zeit opfern kannst. Da gibt es ein
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