Hochzeit im Herrenhaus
zu verbringen habe.” Zu Sarah gewandt, fügte sie hinzu: “In dieser Kunst, anderen Leuten seinen Willen aufzuzwingen, ist dein Bruder ein wahrer Meister. Aber falls er glaubt, er könnte mir Vorschriften machen, irrt er sich. Das werde ich ihm unmissverständlich erklären.”
Verwirrt wechselten Sarah und Louise einen Blick, denn der Herr von Greythorpe Manor war nicht daran gewöhnt, dass man seine Entscheidungen kritisierte.
6. KAPITEL
A m nächsten Vormittag verlief der Besuch in Nanny Berrys Cottage nicht nur sehr erfreulich, sondern auch aufschlussreich. Annis und die alte Frau verstanden sich auf Anhieb. Deshalb zögerten Sarah und ihre junge Cousine nicht, die beiden allein zu lassen, und gingen mit der übermütigen jungen Hündin der einstigen Kinderfrau spazieren. Dabei wollten sie im Pfarrhaus vorbeischauen, wo Louise die Gesellschaft der ältesten Tochter des Vikars genießen würde, eines Mädchens in ihrem Alter.
“Miss Louise erscheint mir viel fröhlicher als bei unserer letzten Begegnung”, sagte Nanny Berry. Wie üblich saß sie in ihrem Sessel am Fenster, wo sie das Kommen und Gehen der Nachbarn zu beobachten pflegte. “Trotzdem muss sie sich im Herrenhaus langweilen. Dort ging es niemals besonders lustig zu. Aber nachdem Master Deverel sein Erbe angetreten hat, sollte sich das ändern. Wahrscheinlich hängt sehr viel von der Frau ab, die er heiraten wird. Und er wird sicher eine aussuchen, die zu ihm passt. Er hat einen starken Willen, unser junger Herr. Immerhin war er der Einzige, der sich gegen den missmutigen alten Viscount zu behaupten wagte. Damit brachte sich der Bursche oft in Schwierigkeiten. Einmal widersprach er seinem Vater, und der sperrte ihn im Eiskeller ein. So eine grausame Strafe! Mitten im Dezember! Am Vortag hatte es ziemlich stark geschneit. Wie leicht hätte sich der Junge eine gefährliche Lungenentzündung holen können!” Kichernd fuhr sie fort: “Das ließen wir nicht zu. Wir verständigten den guten Wilks, der ihn rausholte und im Stall versteckte. Kein einziger Dienstbote verriet auch nur ein Sterbenswörtchen. Nicht einmal Dunster. Obwohl er damals noch ein einfacher zweiter Lakai war und mit aller Macht befördert werden wollte …”
Gedankenverloren schüttelte die alte Nanny den Kopf. “Um jene Zeit begann sich der junge Master zu ändern und seinem Vater zu ähneln. Kühl und distanziert sei er geworden, meinten einige Leute. Das habe ich bezweifelt. Vermutlich hat er nur erkannt, dass seine Streitigkeiten mit dem Viscount der armen Miss Sarah schaden würden. Und so bemühte er sich, den alten Griesgram nicht mehr zu ärgern, und zügelte sein Temperament. Und doch – sein Geist war nicht gebrochen. Manchmal, wenn er mich jetzt besucht, sehe ich ein mutwilliges Funkeln in seinen Augen, wie in der Kindheit. Auch die Mutter, die schon früh verstarb, hatte ihrem Sohn und der Tochter keine übergroße Liebe geschenkt. Aber man hörte sie wenigstens lachen, wenn sie ins Kinderzimmer ging.”
Mit diesen Enthüllungen bestätigte Nanny Berry, was Annis bereits geahnt hatte. “Da stimme ich Ihnen zu, Mrs. Berry. Sicher hat das Verhalten des Vaters den Sohn beeinflusst, ohne ihn vollends zu vernichten. So wie der alte Viscount braucht der neue hin und wieder Atempausen und zieht sich in die Einsamkeit zurück. Trotzdem kommt er mir weder kühl noch distanziert vor. Ganz im Gegenteil! Oft genug hat er mir seinen Humor bewiesen. Erst gestern Nachmittag, als ich ihm wegen einer – eh – gewissen Angelegenheit Vorwürfe machte …”
In wachsendem Staunen musterte Nanny Berry ihre Besucherin, wurde jedoch an einer Antwort gehindert. Schrilles Gekläff erklang vor der Haustür, und Annis stand auf, um den jungen Spaniel hereinzulassen. Aufgeregt sprang er an ihr hoch und zeigte ihr seine Zuneigung, indem er mit den Vorderpfoten an ihren Röcken zerrte.
“Sieh mal einer an!”, rief Nanny Berry. “Offenbar hat sich Rosie von der Leine losgerissen, weil Sie zurückgeblieben sind, Miss Milbank. Und das gefiel ihr nicht. O ja, sie war Ihnen sofort zugetan.”
Erst nach einer kleinen Weile gelang es Annis, den Spaniel zu beruhigen, und dann saß er brav neben ihrem Sessel. Anbetend schaute er zu ihr auf, als wäre sie eine Göttin, deren Schutz ihm allein oblag.
“Verzeihen Sie mir, wenn ich das sage, Mrs. Berry …”, begann sie und streichelte geistesabwesend die seidigen Ohren der Hündin. “Im Grunde geht es mich nichts an. Aber glauben Sie nicht,
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