Hochzeit in Glenrae
zusammen.
Er scheint nicht gut auf Tante Louise zu sprechen zu sein, dachte Jenna. “Ja”, bestätigte sie vorsichtig. “Kennen Sie sie?”
Der Mann lachte zynisch. “Oh ja, das kann man wohl sagen.” Der Ton, in dem er das äußerte, sprach Bände.
Jenna überlegte. “Sind Sie … ein Nachbar?”
Er warf ihr einen forschenden Blick zu, der sie noch mehr verunsicherte.
“Ich bin Duncan Fergusson. Und man könnte mich wohl als Nachbarn bezeichnen, wenn auch nur als entfernten.”
Er widmete seine Aufmerksamkeit wieder der Straße, und Jenna stellte weitere Überlegungen an.
“Wohnen Sie in Glenrae?”, versuchte sie dann, dem Rätsel auf die Spur zu kommen.
“Ja. Aber einige Kilometer außerhalb des Ortes. Gott sei Dank, kann ich nur sagen.” Wieder blickte Duncan Fergusson Jenna von der Seite an. “Sie waren noch nie hier?”
“Nein. Ich habe meine Tante seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Jedenfalls nicht, seit sie wieder geheiratet hat. Damals war ich noch ein Kind.”
“So viele Jahre können es dann auch wieder nicht sein”, stellte Duncan Fergusson, nun fast amüsiert, fest. “Sie sind ja auch jetzt noch ein halbes Kind.”
Jenna richtete sich kerzengerade auf. “Ich werde demnächst vierundzwanzig. Von halbem Kind kann also keine Rede sein.”
Er lachte. “Natürlich, da haben Sie recht. Vierundzwanzig ist uralt. Aber Sie wirken nicht so.”
“Danke.” Jenna hatte da ihre Zweifel. Wenn man ihr ihr Alter nicht ansah, war das ein Wunder nach all dem Kummer, den sie in der letzten Zeit durchgemacht hatte.
Duncan Fergussons Lachen ermutigte Jenna zu der Frage: “Was für ein Ort ist Glenrae?”
Er dachte einige Augenblicke nach, ehe er antwortete: “Nun, ich würde sagen, ein Dorf wie andere auch. Ein Nest, in dem jeder jeden kennt.” Er gab einen verächtlichen Laut von sich. “Und jeder alles über jeden weiß, wie Sie zweifellos bald herausfinden werden.”
Jenna schwieg, und er wandte sich ihr erneut zu und betrachtete sie kurz. “Wie heißen Sie?”
“Jenna Wilde.” Sie deutete auf das schlafende Kind. “Und das ist meine Schwester Suzie.”
“Sehr leichtsinnig von Ihnen, bei hereinbrechender Dunkelheit auf diesen tückischen Nebenstraßen zu fahren. Kein vernünftiger Mensch hätte sich das getraut. Aber nun, Vernunft scheint ja auch nicht gerade zu den Stärken Ihrer Familie zu gehören.”
Sie ballte die Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte sie Duncan Fergusson geohrfeigt. Langsam zählte sie bis zehn, dann erwiderte sie mühsam beherrscht: “Ich habe seit dem frühen Morgen am Steuer gesessen. Bis Glenrae war es meiner Rechnung nach nur noch eine Stunde, und wenn ich nicht das Pech gehabt hätte, den Felsbrocken zu erwischen, wäre ich vor Einbruch der Dunkelheit dort gewesen.”
Bei den letzten Worten hatte ihre Stimme leicht zu zittern begonnen. Eine Pechsträhne verfolgte Jenna nun schon seit geraumer Zeit. Durch eine ebenso unglückliche Fügung hatte sie ihren Posten als Lehrerin verloren. Um das Maß voll zu machen, kam ihr barmherziger Samariter ihr in dieser unerfreulichen Situation nun auch noch mit Vorhaltungen.
“Ich bin Ihnen für Ihre Hilfe dankbar, aber das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, mich oder Mitglieder meiner Familie zu kritisieren.” Jenna sah ihn kampflustig an.
Duncan Fergusson wandte sich ihr zu. Der grimmige Ausdruck in seinen Augen war verschwunden, und in ihnen lag jetzt fast so etwas wie Anerkennung. “Sie scheinen mehr Rückgrat zu haben als die meisten von ihnen.”
Damit widmete er sich wieder der Straße und schwieg.
Jenna wusste nicht, wie sie das verstehen sollte, aber sie hütete sich, Duncan Fergusson um eine Erklärung zu bitten. Außerdem musste er sich jetzt voll auf das Fahren konzentrieren, weil die Fahrbahn erneut schmal und felsig wurde.
Erst nach einer ganzen Weile erkundigte Jenna sich: “Ist es noch weit bis zum Haus meiner Tante?”
“Ja. Aber es dauert nicht mehr lange, bis wir bei meinem sind, wo Sie übernachten werden. Ich werde Dr. McRae kommen lassen, damit er Ihre Schwester untersucht. Bei der Gelegenheit kann er sich auch Ihr Handgelenk ansehen.”
“Ich möchte Ihnen keine Mühe machen”, wehrte Jenna ab.
“Das ist keine Mühe.”
Sie waren an einer Gabelung angekommen. Duncan Fergusson verlangsamte das Tempo und hielt sich links. Es schien jetzt leicht bergauf zu gehen, und sie näherten sich erneut dem Felsmassiv. Jenna überkam plötzlich das beunruhigende Gefühl, einen
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