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Hochzeit kommt vor dem Fall

Hochzeit kommt vor dem Fall

Titel: Hochzeit kommt vor dem Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
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Lebensgewohnheiten zu wissen; Kirks gärtnerisches Wissen beschränkte sich auf normale Blumen- und Küchenbeete.
    Jedenfalls lag es nicht außerhalb jeder Möglichkeit, daß Noakes aus irgendeinem Grunde, den nur er selbst kannte, den Kaktus heruntergenommen hatte. Das Gegenteil ließ sich zumindest nicht beweisen. Angenommen also, er hatte. Gut. Dann war um neun Uhr Sellon gekommen und hatte Noakes ins Wohnzimmer kommen sehen … Hier mußte Kirk wieder innehalten, um nachzudenken. Wenn Noakes für die Nachrichten um halb zehn gekommen war, wie gewöhnlich, dann war er viel zu früh. Er war heimgekommen (sagte Sellon) und hatte auf die Uhr gesehen. Der Tote hatte keine Armband- oder Taschenuhr am Leib gehabt, und Kirk hatte mit Sicherheit angenommen, daß er nur ins Wohnzimmer gegangen war, um zu sehen, wie lange es noch bis zu den Abendnachrichten dauerte. Er konnte aber auch die Absicht gehabt haben, den Kaktus wieder an seinen Platz zu tun, und war aus diesem Grunde etwas früher gekommen. Das ging also klar. Er kommt herein. Er denkt: Na, ob ich wohl noch Zeit habe, diesen Kaktus aus der Spülküche zu holen (oder wo er sich sonst befand), bevor die Nachrichten anfangen? Er schaut auf die Uhr. Da klopft Joe Sellon ans Fenster, und er kommt herüber. Sie reden miteinander, und Joe geht wieder fort. Der Alte holt seinen Kaktus und steigt auf einen Stuhl oder dergleichen, um ihn an seinen Platz zu tun. Oder vielleicht holt er die Trittleiter. Und gerade wie der das tut, sieht er, daß es auf halb zehn zugeht, und das macht ihn ein bißchen nervös. Er beugt sich zu weit vor, oder die Sprossen sind rutschig, oder er steigt zu unvorsichtig herunter, und schon bekommt er das Übergewicht, stürzt und schlägt mit dem Kopf auf dem Boden auf – oder noch besser, gegen eine Kante der Bank. Er ist bewußtlos. Bald darauf kommt er wieder zu sich, stellt den Stuhl oder die Trittleiter wieder fort und – na ja, wie es ihm danach ergangen ist, wissen wir ja. So sieht’s also aus. So einfach wie das kleine Einmaleins. Ohne Nachschlüssel oder gestohlene Schlüssel oder versteckte stumpfe Gegenstände oder Lügengespinste – nichts als ein simpler Unfall, und alle haben die Wahrheit gesagt. Kirk war von der Schönheit, Schlichtheit und Verständigkeit seiner Lösung so angetan wie seinerzeit wahrscheinlich Kopernikus, als er erstmals auf die Idee kam, die Sonne in die Mitte des Solarsystems zu setzen, und nun sah, wie alle Planeten, statt komplizierte und häßliche geometrische Kapriolen zu schlagen, sittsam und würdevoll ihre Kreisbahnen zogen. Zehn Minuten lang saß er da und ließ sie sich liebevoll noch einmal durch den Kopf gehen, bevor er sich daran machte, sie zu überprüfen. Er hatte Angst davor, ihr etwas von ihrer Schönheit zu nehmen.
    Aber immerhin war eine Theorie nur eine Theorie; man mußte erst noch etwas Handfestes finden, was sie erhärtete. Zumindest mußte man sich vergewissern, daß nichts gegen sie sprach. Da war zuerst die Frage, ob ein Mensch so einfach durch einen Sturz von einer Trittleiter umkommen konnte.
    Schulter an Schulter mit seinen Volksausgaben englischer Dichter und Philosophen, flankiert auf der rechten Seite von Bartletts Zitatenschatz und auf der linken von jenem praktischen Polizeihandbuch, das alle Verbrechen nach der Art ihrer Ausführung zerlegte und katalogisierte, standen groß und drohend die beiden blauen Bände von Taylors Gerichtsmedizin, jenem Kanon unkanonischen Tuns, dem Baedeker der Hintertüren zum Tod. Kirk hatte dieses Werk oft studiert, um sich pflichtbewußt für das Unerwartete zu wappnen. Jetzt nahm er es vom Regal und blätterte in Band I, bis er an die Überschrift »Intracraniale Hämorrhagie – Gewaltanwendung oder Krankheit« kam. Er suchte nach dem Kapitel über den Mann, der von einer Chaise gefallen war. Ja, da war es. In dem Bericht des Guy’s-Krankenhauses von 1859 bekam der Mann regelrecht persönliche Züge:
    »Ein Mann stürzte von einer Chaise und fiel so schwer auf den Kopf, daß er bewußtlos war. Nach kurzer Zeit kehrten seine Sinne zurück, und er fühlte sich soviel besser, daß er wieder in die Chaise stieg und sich von seinem Begleiter zum Haus seines Vaters fahren ließ. Er versuchte den Unfall als unbedeutend abzutun, doch bald begann er sich müde und schläfrig zu fühlen, so daß er sich zu Bett begeben mußte. Seine Symptome wurden immer beängstigender, und er starb binnen einer Stunde an einer Blutung im Gehirn.«
    So ein

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