Höchstgebot
man den silbernen Kugelschreiber, den er auf dem Zettel zurückverlangt hatte. Der Stift trug die Gravur: Für meinen Sohn Jens .
Bei der Festnahme von Jens Hinrichs wurde vom Einsatz einer Verhaftungseinheit abgesehen. Zur Sicherheit ließ Katja vier Streifenwagen in den Straßen rund um sein Haus Position beziehen. Allerdings wurde tatsächlich beschlossen, den Verdächtigen zum üblichen Zeitpunkt vor Morgengrauen festzunehmen. Deshalb erschienen Micky und Katja nach einer nur kurzen Nachtruhe schon um vier Uhr morgens zum Briefing im Aachener Polizeipräsidium, wo sie den Kollegen einschärften, die Samthandschuhe anzuziehen.
Die beiden Frauen würden an der Tür klingeln und Hinrichs die Gelegenheit bieten, sich anzuziehen. Nach dem Eintreffen im Präsidium würde er unverzüglich verhört werden. Die Besatzungen der Streifenwagen sollten nur eingreifen, falls der Verdächtige Widerstand leistete. Bis dahin sollten sie sich unauffällig in der Nähe aufhalten.
»Ach, die holländische Methode?«, hatte einer der diensthabenden Beamten bemerkt, was ihm das Gelächter seiner Kollegen und einen strafenden Blick von Katja eintrug.
Micky hatte der Gruppe erklärt, dass Jens Hinrichs an Autismus oder einer verwandten Störung litt. »Er lebt emotional in einer eingeschränkten Welt. Die meisten Gefühle, die wir empfinden, sind für ihn unbekanntes Terrain, doch er erkennt sie durchaus bei anderen. Und das weiß er zu nutzen, immerhin ist er sehr intelligent.«
Die meisten Kollegen machten den Eindruck, als seien sie sturzneidisch auf einen Typen, der sich mit Gefühlen nicht herumzuschlagen brauchte.
»Für euch und mich sind Gefühle wichtig«, fuhr Micky fort. »Denn sie geben uns eine Richtung im Leben, ob im positiven oder negativen Sinne. Ein Mann wie Jens Hinrichs muss anderweitig Halt finden. Er sucht Sicherheit durch extreme Ordnung. Gewohnheiten und Regelmäßigkeit sind für ihn lebenswichtig. Für euch bedeuten Hierarchien und Autoritäten ein notwendiges Übel, aber für ihn besitzen sie absolute Priorität. Kurzum, er ist noch viel stärker auf Ordnung, Pünktlichkeit und Vorschriften fixiert als der gewöhnliche Deutsche.« Bevor sie fortfuhr, warf sie dem Kollegen, der über die holländische Methode gelästert hatte, einen kurzen Blick zu.
»Deswegen wäre es äußerst ineffizient, wenn wir seine Ordnung stören würden, indem wir mit viel Getöse und Zwangsmaßnahmen in sein Haus stürmten. Er würde Tage brauchen, um einen solchen Überfall zu verarbeiten. In dieser Phase würde er sich komplett verschließen und wir könnten ein Verhör vergessen. Noch Fragen?«
Die zweite Hälfte ihrer Analyse lieferte sie Katja, während sie auf dem Weg zu Jens Hinrichs ihre Verhörstrategie planten. Sie kamen durch die praktisch ausgestorbene Wilhelmstraße, die sich langsam auf einen Tag voller Staus vorbereitete. In sicherem Abstand folgten die vier Streifenwagen.
»Hinrichs Nachricht für Sybille spricht Bände«, sagte Micky. »Er empfindet es als unerträglich, dass der Kugelschreiber unter den Gegenständen in seiner unmittelbaren Umgebung fehlt. Vor allem, weil es ein Geschenk seines Vaters ist, der ersten Autorität, die er in seinem Leben gekannt hat. Sein Hang zur Ordnung ist unser Einfallstor. Aber wir müssen auch die Autorität von Ingrid Roeder untergraben. Sie ist der absolute Bezugspunkt in seinem Koordinatensystem.«
»Und wen setzen wir an ihre Stelle?«
»Uns«, antwortete Micky. »Er muss einsehen, dass wir diejenigen sind, die sein Leben in eine Richtung steuern können, in der er Ruhe und Regelmäßigkeit findet. Wo er das bekommt, was er braucht.«
»Bitte bleib in meiner Nähe«, bat Katja. »So viel Psychologie überfordert mich. Lass uns erst mal ein paar nachprüfbare Fakten über unseren Patienten sammeln. Wer, was, wo, wann, warum und wie.«
Um 4.25 Uhr klingelten sie bei Jens Hinrichs. Zu ihrer Überraschung öffnete er so gut wie sofort, gekleidet in eine bequeme Hausjacke, dazu Krawatte und Flanellhose. Micky vermutete, dass er sie schon erwartet hatte.
»Ja?«, sagte er auffordernd, nachdem sie einander ein paar Sekunden angestarrt hatten.
Katja ergriff das Wort. »Wir möchten, dass Sie uns ins Polizeipräsidium begleiten.«
Jens Hinrichs runzelte die Stirn. »Ich male gerade«, erwiderte er.
»Es ist dringend.«
»Darf ich zuvor noch meine Pinsel reinigen?«, fragte Jens Hinrichs.
Katja blickte Micky an.
»Stellen Sie sie einfach in ein Gefäß mit Wasser«,
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