Höchstgebot
war, aber über die heftigen Phantomschmerzen doch weiterexistierte, genau in derselben schrecklich verdrehten Position wie nach dem Autounfall.
Dann der hilflose Versuch des Vaters und Verursachers des Autounfalls, über den Kauf eines Magritte-Gemäldes Zugang zu seinem verstummten Sohn zu bekommen. Wie er seinen Ingenieurbetrieb auf die Entwicklung medizinischer Prothesen umstellte. Carstens Weigerung, die neuen Prototypen zu testen. Er wollte kein Versuchskaninchen seines Vaters sein, der sich in den Wunsch, Carsten zu einem neuen Arm zu verhelfen, so weit verstiegen hatte, dass er dem Jungen wie Dr. Frankenstein erschien.
»Absurderweise ist Ingrids Leben durch die Amputation meines Arms genauso bestimmt worden wie meines. Ich war ihr großer Bruder, den sie bewunderte. Andererseits brauchte ich oft Hilfe und sie entwickelte einen Beschützerinstinkt. Irgendwann, als sie vielleicht zwölf war, setzte sie sich in den Kopf, selbst Ingenieurin zu werden. Denn sie war sich ganz sicher, dass ich von ihr eine Prothese sofort annehmen würde. Sie steckte in der Firma Instrumente ein und untersuchte meinen Armstumpf, entwickelte Reaktionstests, denen ich mich unterziehen sollte. Sie hatte noch einen komplett kindlichen Blick auf das alles, aber ihr Ehrgeiz und ihre Forderungen an mich hatten nichts mehr mit Kinderspielen zu tun. Es wurde mir einfach zu viel und ich habe sie zurückgestoßen.«
»Das ist alles über dreißig Jahre her«, wandte Robert ein.
»Ja, und sie ist Ingenieurin geworden. Und zwar eine richtig gute. Sie hat ihr Programm durchgezogen. Das hier«, er zog den linken Anzugärmel hoch, »ist Ingrids Werk. Der Prototyp zu unserer aktuellen High-End-Serie. Sie schickte ihn mir vor einem Jahr, ohne jede persönliche Notiz, aber dafür mit einer internen Rechnung über bezogene Leistungen. Sie hat seit damals alles, was ich tat, als fortgesetzte Abweisung interpretiert. Im Gegenzug hat sie beschlossen, für alles, was sie tut, Bezahlung zu verlangen. Und jetzt bezahle ich mit dem Unternehmen.«
Auf halbem Weg zurück zur Bushaltestelle hielt Mickys Wagen neben ihm.
»Du bist zu spät«, rügte sie ihn, nachdem er seine Sachen auf die Rückbank gestellt und sich neben sie gesetzt hatte. Sie wirkte unzufrieden und müde.
»Ich war bei Carsten«, sagte Robert entschuldigend. Er wollte nicht, dass sein erstes Treffen mit Micky nach so langer Zeit danebenging.
»Wo müssen wir jetzt noch hin, bevor wir endlich essen dürfen?«, fragte Micky.
Robert nannte die Adresse des Appartements, das ihm die SRAL für seinen Aufenthalt in Maastricht vermittelt hatte.
Dann verstummten sie. Micky konzentrierte sich auf die Straße, Robert dachte über sein Gespräch mit Carsten nach. Er hatte ihm zwar versprechen müssen, alles für sich zu behalten, aber Robert spürte, dass Micky die Hintergründe kennen musste. Nach einer Weile begann er zu erzählen, was er wusste.
Um an der Kunstakademie angenommen zu werden, war Carsten zwar nicht kreativ genug gewesen, aber ein guter Kunsthistoriker hätte er werden können. Als Carsten im Studium von Kunstgeschichte auf Betriebswirtschaft umsattelte, hatte Robert geglaubt, sein Freund würde sich dem Befehl des Familienpatriarchen unterordnen. Tatsächlich war es wohl genau andersherum gewesen. Carstens Vater war schwer erkrankt und hatte seinen Sohn geradezu angefleht, in die Firma einzutreten. Zum ersten Mal war nicht der Vater der große Wohltäter, sondern derjenige, der Hilfe benötigte.
»Und wenn sie nicht gestorben sind …«, Micky seufzte und drehte das Radio an.
»Ich bin noch nicht fertig.« Robert schaltete das Radio wieder aus. So kannte er Micky gar nicht. Sonst hatte sie immer jeden Fitzel an Information in sich aufgesogen.
»Dann schenk mir den Schlüssel zur Lösung meines Falls«, sagte Micky schnippisch.
Robert ignorierte ihren Ton. »Carsten war in Wirklichkeit froh, dass der Magritte verkauft werden sollte. Als Jugendlicher liebte er das Bild, denn es versprach ihm, dass das, was unsichtbar ist und scheinbar fehlt, das eigentlich Wesentliche ist und besondere Kräfte freisetzt. Imagination, Einfallsreichtum, das Wissen um eine Welt, die über das Materielle weit hinausgeht. Das Gemälde hat ihm vermittelt, dass ihn sein fehlender Arm besonders machte. Deswegen glaubte er auch anfangs, ein Künstler werden zu können.«
»Um schließlich hinter dem Schreibtisch zu landen, der Arme«, ätzte Micky.
»Und dabei hat er gelernt, dass manchmal ein
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