Höchstgebot
Verlust eben einfach nur ein Verlust bleibt. Das hat Carstens Haltung vollkommen verkehrt: Er fühlte sich durch das Bild nicht mehr aufgewertet, sondern benutzt. Das ist wie bei der Begeisterung der Surrealisten für Geisteskranke. Das, was fehlt oder zerstört ist, macht nicht unbedingt immer den, der den Verlust hat, zu etwas Besonderem, sondern der Künstler macht sich selbst zu etwas Besonderem, indem er sich davon inspirieren lässt. Sozusagen ein Parasit. Sagt Carsten.«
»Und diese wunderbaren philosophischen Erläuterungen, die kein Mensch begreift, sollen jetzt alles erklären? Vielen Dank, Herr Patati.«
Robert wurde allmählich ärgerlich. »Wie auch immer, Carsten hängt nicht mehr an dem Bild, er lehnt es ab. Und er hoffte, dass Ingrid so viel Geld dafür erhalten würde, dass sie sich endlich nicht mehr zurückgesetzt fühlen würde. Er wollte ihr so viele Firmenanteile zum Kauf anbieten, dass sie gleichberechtigte Gesellschafterin würde und sie ihren Streit begraben könnten.«
»Warum hat er ihr die Anteile nicht vorher geschenkt, wenn ihm so viel an diesem Frieden lag?«
»Weil er fürchtete, dass Ingrid keinen Frieden wollte und ihn mit ihrem Vermögen und den Anteilen zusammen bei der ersten Liquiditätsschwäche aus dem Unternehmen drängen würde.«
»Was jetzt passieren könnte.«
»Er ist sich sicher, dass das ihr Plan ist. Aber im Augenblick spiele sie noch mit ihm wie eine Katze mit einer halbtoten Maus. Er schätzt, dass sie erst kurz vor der Insolvenzerklärung ihre Forderungen auf den Tisch legen wird.«
»Und die wären?«
»Vermutlich, dass er alle Anteile abgibt und dabei auch gleich seinen Stuhl räumt.«
»Warum sollte sie auf ihn verzichten? Sie ist Ingenieurin, keine Kauffrau. Und er war ziemlich erfolgreich.«
»Sie haben unterschiedliche Vorstellungen. Carsten sagte, sie hätte sich immer darüber aufgeregt, dass er zu viel Geld für die Anti-Landminen-Kampagne gespendet hätte. Und jetzt ärgert es sie, dass er in eine Low-Budget-Produktlinie investieren will, die die Landminenopfer mit billigen, aber guten Prothesen versorgen könnte.«
»Und du glaubst diesen ganzen Kram?«, fragte Micky. »Der Gute und das Biest. Es könnte genauso gut umgekehrt geplant gewesen sein. Er hat das Gemälde rauben lassen, um mit einem Lösegeld Ingrids finanziellen Vorsprung zu verringern. Aber unglücklicherweise hat ihn diese Brandstifterin ruiniert.«
Micky forderte Robert heute alle Selbstbeherrschung ab, die er zusammenkratzen konnte. Er dachte an die noch viel heftiger auf Krawall gebürstete Anouk. Vielleicht war ja heute Vollmond. Oder Venus und Mars feierten blutige Hochzeit im siebten Quadranten.
Als Micky in die Sint Bernardusstraat einbog, zeigte Robert wortlos, wo sie anhalten sollte, stieg aus und trug seine Sachen in das Appartement.
»Vielleicht hast du ja recht«, empfing ihn Micky zu seiner Überraschung, als er wieder in den Wagen stieg. »Meine Intuition sagt mir, dass ich Carsten nicht trauen kann. Andererseits ist meine Intuition im Augenblick etwas auf den Hund gekommen. Und im Übrigen habe ich furchtbaren Hunger.«
Der sollte sich noch ein wenig steigern. Denn im asiatischen Restaurant in der Nähe der Schauspielakademie, das Micky ausgesucht hatte, warteten schon Gäste an der Theke auf einen frei werdenden Tisch.
»Sie hätten halt reservieren sollen«, beantwortete die Kellnerin Mickys fragenden Blick tadelnd.
Vollmond, dachte Robert und zog Micky zur Tür raus. »Komm, wir finden etwas Besseres.«
Sie liefen eine Weile im Jekerkwartier umher, aber nichts schien ihnen passend. Es gab zahlreiche elegante Restaurants, hinter deren Fenstern sie Paare an kleinen Tischen mit gestärkten Decken bei Kerzenschein dinieren sahen. Manche starrten sie abfällig durch die Scheiben an.
»Wir sind underdressed«, stellte Micky mit einem Blick auf ihre und Roberts Jeans fest.
»Und overlebendig«, antwortete Robert. Sie lachten, aber Mickys leerer Magen knurrte laut dagegen an.
Kurz darauf liefen sie an einem Restaurant in einem alten Doppelhaus mit Spitzgiebeln vorbei. Robert stoppte und warf einen Blick auf die Karte neben der Tür.
»Hey Micky, komm zurück!«, rief er. »Ein Zeichen! Der Herr hat uns ein Zeichen gesandt.«
Sie kehrte skeptisch zurück und las, worauf Roberts Finger zeigte. Ein vegetarisches Gericht mit einer Soße von altem Beemsterkäse. Sie nickte lächelnd. Ihre Freundschaft hatte Jahre zuvor an einem milden Herbstabend hoch oben auf
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