Höchstgebot
dieser Stelle dort? Sie schreiben von einer unfachgemäßen Ausbesserung des Farbauftrags. Ich sehe dort einen Farbverlust.«
Robert hatte plötzlich das Gefühl, wieder seiner alten Deutschlehrerin ausgeliefert zu sein, die jedes Jahr hartnäckig, aber erfolglos seine Versetzung torpediert hatte. Er folgte Anouk van Bergs Fingerzeig. Im schwarzen Eingangsloch der Höhle rechts auf dem Gemälde war tatsächlich ein zwei Millimeter großer Schaden zu sehen. Irritiert las er in seinem Protokoll nach. Seine Korestauratorin hatte recht. Aber er konnte sich absolut nicht an diese Stelle erinnern, weder an den Schaden noch an die im Protokoll angegebene Ausbesserung. Dieses Tramadol schien allmählich sein Kurzzeitgedächtnis zu zersetzen.
Er räusperte sich. »Die Hieroglyphenentzifferung ist eine Kunst für sich«, sagte er so lässig wie möglich, »hier steht nicht ›unfachgemäße‹, sondern ›und fachgemäße‹ – es ist nur eine Notiz, dass wir an dieser Stelle arbeiten müssen.«
»Im Zustandsprotokoll!«, gab Anouk van Berg trocken zurück. »Und ›fachgemäß‹, das ist natürlich ein ganz fein differenzierter Hinweis. Gut, dass Sie das aufgeschrieben haben, Herr Kollege.«
Robert war sprachlos. Was ging denn hier ab? Und wieso mussten gerade jetzt seine schmerzmittelgedämpften Synapsen die Kreativität einer Wollmütze unterschreiten? Eine Antwort!, schrie es in ihm, ein Magritte-Gemälde für eine schlagfertige Antwort! Doch am Ende rettete ihn nur das schnöde Klingeln seines Handys.
»Du wolltest doch noch mal nach Hause«, flötete Katja gut gelaunt. Welch ein Unterschied zu seinem garstigen Gegenüber.
»Mehr denn je, liebe Katja«, sagte Robert grinsend.
»Na, dann komm mal raus. Ich stehe in der Parkbucht gegenüber.«
»Bin schon da«, sagte er und schob das Handy in seine Tasche.
»Verehrte Frau van Berg, ich verlasse Sie und den Magritte nur sehr ungern, aber man hat mir soeben einen Lift nach Hause spendiert. Ich möchte nicht auf meine eigenen Instrumente verzichten. Und Störleim gibt’s hier leider auch nicht.«
»Störleim? Was wollen Sie mit diesem antiquiertem Zeug? Hier steht Evacon in Mengen.«
»Ich bevorzuge Naturstoffe«, antwortete Robert knapp.
»Ach, ihr Biodeutschen! Naturstoff über alles in der Welt. Hallo? Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert! Dutzende Laborreihen haben gezeigt, dass synthetischer Kle ber keinerlei Nachteile hat.« Anouk schimpfte wie ein Rohrspatz und warf die Arme theatralisch in die Luft, während sie vor Robert auf und ab lief, ohne ihn einmal anzusehen.
Je hektischer sie sich in diesem höchst befremdlichen Schauspiel bewegte, umso ruhiger wurde er. »Das mag ja alles sein, aber ich arbeite seit Jahrzehnten erfolgreich mit Störleim – und so lange Sie mir kein stichhaltiges Argument liefern, berührt den Magritte nichts Künstliches. Sie entschuldigen mich.« Er verließ das Atelier, stoppte und schaute noch einmal durch den Türrahmen hinein: »Ich komme erst spät wieder. Gehen Sie ruhig nach Hause. Wir fangen dann morgen an.«
Ehe ihn ein Antwortgeschoss aus Anouk van Bergs dunkelrot geschminktem Mund treffen konnte, zog er den Kopf zurück und verschwand.
Katja war ein Schatz. Eigentlich hätte sie auf direktem Wege nach Aachen fahren können, aber dem körperlich versehrten und autolosen Robert zuliebe hatte sie eine extrem weite Schleife gezogen, um ihn nach Krefeld zu bringen.
Während sie jetzt im Auto auf ihn wartete, betrat er mit einem Stapel Post sein Haus. Rechnungen, Mahnungen, ein unangenehmer Brief der Sparkasse. Er setzte sich auf die alte Holztreppe, die in die erste Etage zum Schlafzimmer führte, und rechnete durch, was der Magritte – Job ihm einbringen würde und in welcher Reihenfolge er seine Gläubiger am besten befrieden konnte. Er kam nicht sehr weit.
Ächzend raffte er sich auf und holte die alte lederne Arzttasche mit seinem Werkzeug und einer Partie Störleim-Pellets aus dem Keller. Auf halber Strecke zurück zum Auto blieb er abrupt stehen. Und wie wäre es mit Kleidung, Wäsche, Zahnpasta und diversen anderen Dingen, die zu einem zivilisierten Dasein dazugehörten? Er kehrte um. Wo hatte er nur seinen Kopf?
»Hast du noch einen Schönheitsschlaf gehalten?«, fragte Katja, als er endlich durch die Hoftür kam und seine Taschen auf die Rückbank stellte.
Unterwegs verriet sie endlich, was sie in Aachen wollte. Sie war mit einem Steuerbeamten verabredet.
»Klingt sexy«, witzelte Robert.
»Und
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