Höchstgebot
Mädchen war ich. Nur, dass ich nicht Vögeln die Eingeweide bluttriefend herausbiss, sondern jeden Tag mir selbst. Meine Mitstudenten stellten sich dermaßen jämmerlich an, wie brutal und grausam Magritte das doch gemalt hätte. Aber das war eben der entscheidende Punkt: Es zeigt die nackte Wahrheit bürgerlicher Gewalt.«
»Und an dem Tag hast du beschlossen, Surrealistin zu werden?«
»Robert, man beschließt doch nicht, Surrealistin zu werden. Man erkennt, dass man es ist. Dass man anders, viel mehr ist und sich die ganze Zeit über zerstört hat, indem man versuchte, sich kleinzumachen und Teil dieser vorgeblichen Normalität zu werden. Ich habe alles studiert, was ich an surrealistischen Dokumenten in die Hand bekommen konnte – und aufgehört, mich selbst zu verletzen.«
»Und heute bist du eine angesehene Restauratorin surrealistischer Kunst. Ganz gutbürgerlich.«
»In der Maske des Durchschnittsbürgers. Genau wie es Magritte tat mit seinen grauen Anzügen, dem Bowlerhut, dem Malen im Wohnzimmer statt in einem Atelier. Du musst unauffällig unter den Menschen leben. Sonst kommen sie und zerstören dir deine innere Freiheit.«
»Aber du …«, wollte Robert nachhaken, doch in diesem Moment klingelte es.
Er stand auf, um nach vorne zu gehen.
»Du brichst unser Gespräch ab? Nur, weil irgendwer schellt?« Anouk sprang auf, die Fäuste an ihren herabhängenden Armen waren geballt.
»Das ist Katja, auf sie warten wir doch.« Robert blieb perplex an der Tür stehen.
»Du hast auf sie gewartet. Ich bin wegen dir hier. Deine Katja taucht wie immer zur falschen Zeit auf.« Sie schnappte ihre Strickjacke und rauschte an Robert vorbei.
»Wieso ›wie immer‹?«, rief er, aber da hörte er schon die Sicherheitstür ins Schloss fallen.
»Gerade ist ein hitziger Feuerball an uns vorbeigeschossen. War das deine Anouk?«, fragte Katja, während sie ihn umarmte.
»Wieso meine?«, gab Robert anstelle einer Begrüßung sauer zurück.
»Uiihh«, sagte Katja und wies dann auf den Mann hinter ihr. »Entschuldigung, das ist Holger, unser Kryptograf.«
»Und was heißt hier ›uiihh‹? So ein Blödsinn. Äh, hallo, Holger. Robert, Robert Patati.«
»Ich hab schon viel von dir gehört.«
»Na, dann ist ja gut. Hier lang, bitte.«
Holger schaltete seinen Laptop ein, rief ein Programm auf und bat Katja, das einzutippen, was er ihr diktieren würde. Dann setzte er sich an das Mikroskop, stellte die Optik ein und las langsam die Zahl vor.
»Das war die Kärrnerarbeit«, sagte er zufrieden, »der Rest ist Rechenleistung.«
Er drückte die Enter-Taste und keine zwei Sekunden später stand das Ergebnis fest.
»Der Punkt selbst erinnert mich an einen Microdot. Damit haben Spione im Zweiten Weltkrieg Nachrichten übermittelt. Vereinfacht gesagt, haben sie Dokumente durch ein umgedrehtes Mikroskop fotografiert und auf Glaspunkte belichtet, die nur einen Quadratmillimeter klein waren. Schwarz eingefärbt wurden sie dann als Punkte über die I in unverfänglichen Briefen gesetzt. Vor allem …«
Katja unterbrach den begeistert referierenden Holger. »Das war vor siebzig Jahren. Was sagt die Gegenwart?«
Holger schaute sie enttäuscht an. »Heute ist nicht mehr das Geschick der Spione, sondern das der Ingenieure gefragt. Die Zahl ist nicht einfach mit einem Kopierer verkleinert worden. Dafür sind die Kanten der Schrift zu scharf und das Bild ist zu klar. Das ist eine Mikrotext-Schrift. Von Xerox gibt’s eine, die schafft es locker runter bis 0,6 Punktgröße. Erst danach ist es noch einmal verkleinert worden. Sehr clever.«
»Okay«, sagte Robert, »also eine geheime Message. Und was ist das nun für ein Code? Sind da Buchstaben in Zahlen übersetzt worden?«
Der Kryptograf grinste. »Wer einen solchen Aufwand betreibt, verwendet garantiert keinen Kindercode. Es handelt sich um eine Primzahl. RSA-Verschlüsselungen arbeiten damit. Reicht euch das als Info? Ich will euch nicht mit Dingen langweilen, die ihr eh nicht versteht.«
»Versuch’s einfach«, forderte Katja.
Holger rieb sich vor Freude die Hände. »Also: Das größte Geheimhaltungsproblem war früher, dass nicht nur die Nachricht, sondern auch der Code zwischen Absendern und Empfängern transportiert werden musste. Denkt nur mal an die Enigma, mit der die Deutschen im Zweiten Weltkrieg ihre Nachrichten fast perfekt verschlüsselten, aber weil die Alliierten immer mal wieder ein deutsches U-Boot aufbrachten, gelangten sie an die Listen mit den Codes und
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