Höchstgebot
sag gleich Bescheid, wann wir kommen. Und nichts anfassen, okay?«
Der Nerd hieß Holger und musste erst noch die Festplatte seines Neffen retten, wenn er nicht seinen letzten sozialen Kontakt verlieren wollte. Robert hatte Katja versprochen, im Atelier zu warten. ›Nichts anfassen‹ bedeutete in diesem Fall die Höchststrafe.
Aber während sich Robert ausnahmsweise tapfer zurückhielt, wurde für Anouk, die unbedingt hatte bleiben wollen, das Fundstück erst durch das Verbot wirklich interessant.
»Spannend«, sagte sie, während sie sich tief über den Punkt beugte. »Den kann ja eigentlich nur jemand in dieser deutschen Firma aufgeklebt haben, wo das Bild früher gehangen hat. Oder im Auktionshaus«, spekulierte sie.
»Alles möglich«, antwortete Robert zurückhaltend. »Komm, wir schauen uns noch mal die Randstücke des Magritte an.«
»Sei doch nicht so langweilig. Wir könnten versuchen, die Papiersorte zu identifizieren. Die Polizei fände das bestimmt super.«
»Ganz bestimmt, vor allem, wenn die Zahl dabei draufgeht«, sagte Robert und zog sie vom Mikroskop weg.
Eine halbe Stunde später hatten sie den Bereich des Gemäldes festgelegt, in dem sie mit der Rissverklebung beginnen wollten. Anouk ging sofort wieder zum Objekt ihrer Begierde zurück.
»Lass uns doch wenigstens diese Zahl mal bei Google eingeben.«
»Nein.«
»Und wenn es die Weltformel ist?«
»Müssten wir den Punkt sofort verbrennen und ich hätte furchtbaren Ärger mit Katja.«
Anouk begann seufzend, im Atelier auf und ab zu schlendern, wobei sie ihre Runden immer wieder unterbrach, um einen Blick durch das Mikroskop zu werfen.
»Was ist? Hast du Sorge, das Ding könnte sich selbst zerstören?«, fragte Robert.
»Ich muss doch die Zahl auswendig lernen, damit ich sie an Debriek weitergeben kann.« Sie schaute ihn betont verständnislos an, ehe sie ein teuflisches Lächeln auf ihr Gesicht zauberte.
»Sehr witzig«, befand Robert, während Anouk schon wieder unterwegs war und zu seinem iPod herüberging, um erneut seine Sammlung zu checken.
» Get Well Soon , ist das therapeutische Musik?«, fragte sie.
»Musik ist immer Therapie, oder? Das ist eine deutsche Band. Opulenz- und Pathos-Pop, könnte dir gefallen. Klick mal Werner Herzog gets shot an.«
»Und wer ist Werner Herzog?«
»Ein deutscher Regisseur. Hat viel mit Klaus Kinski gedreht. Der Titel bezieht sich darauf, dass Herzog mal in Los Angeles ein Interview gegeben hat, dabei von einem Sniper mit einem Luftgewehr angeschossen wurde und das Interview an anderem Ort ungerührt mit einer Kugel im Unterleib fortsetzte.«
»›Die einfachste surrealistische Tat besteht darin‹«, zitierte Anouk plötzlich und legte eine spannungssteigernde Kunstpause ein.
Robert schalt sich insgeheim einen dummen Streber, aber er konnte nicht anders, als Anouks Satz zu vollenden. »… ›besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings, so lange man kann, in die Menge zu schießen.‹ Ich fand den Spruch immer dumm, angeberisch und gefährlich.«
»Du musst Breton schon vollständig zitieren!« Anouk richtete einen Heizspachtel auf Robert und markierte mit ihm wie mit einem Taktstock den Rhythmus der berühmten Stelle aus dem Zweiten Manifest des Surrealismus: »›Wer nicht wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeit bestehenden elenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen – der gehört eindeutig selbst in diese Menge und hat den Wanst ständig in Schusshöhe.‹«
»Und was macht das besser?«
»Die Lust zu haben, heißt noch lange nicht, es zu tun. Denn es wäre das Einfachste, und das Einfachste ist immer der Feind des Surrealen.«
»Das steht im Widerspruch zum ersten Satz des Zitats.«
»Das nennt man Dialektik. Und gute Dialektik ist immer surreal.«
Robert lachte und hob die Arme. »Gnade! Ich kapituliere!«
»Gut, dann verrate ich dir, dass mich unter anderem dieser Satz gerettet hat.« Ihr Lachen verschwand und sie wies auf die Narben ihres Oberarms. »Und ein Gemälde von Magritte. Ich war Mitte zwanzig, hatte eben die x-te Therapie abgebrochen. Wir gingen auf Studienfahrt nach Düsseldorf. Besuch des Restaurierungszentrums und der Kunstsammlung. Ich betrete den Surrealistensaal und sehe Magrittes Das Vergnügen. Dieses Bild, auf dem ein braves Mädchen in Sonntagskleid und weißem Spitzenkragen herzhaft in einen Vogel beißt.«
»Ich kenne es. Ziemlich verstörend.«
»Das
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