Höhenangst
schweigend.
»Adele, haben Sie gesagt.«
»Ja.«
»Über eine Adele Blanchard haben wir nichts, Alice. Tut mir leid.«
»Kein Problem«, sagte ich. »Es war sowieso nur ein Versuch. Ich bin Ihnen wirklich dankbar.« Ich stand auf.
»Augenblick mal, wir haben hier etwas über eine andere Frau namens Blanchard. Ich dachte mir gleich, daß mir der Name so bekannt vorkommt.«
Ich warf einen Blick über Joannas Schulter.
»Tara Blanchard.«
»Ja. Es sind bloß ein, zwei Sätze. Über eine junge Frau, die vor ein paar Wochen im Osten von London aus einem Kanal gefischt worden ist.«
Deswegen war mir der Name so bekannt erschienen.
Enttäuscht starrte ich auf den Bildschirm. Joanna drückte auf eine Taste, um weitere Artikel zu diesem Thema aufzurufen. Es gab aber nur noch einen, der mit dem ersten mehr oder weniger identisch war.
»Soll ich Ihnen einen Ausdruck machen?« fragte sie mit einer Spur von Ironie in der Stimme. »Wer weiß, vielleicht ist Adele ja ihr zweiter Vorname.«
»Ja, sicher.«
Während der Drucker das einzelne Blatt über Tara Blanchard herausstotterte, fragte ich Joanna, ob sie etwas von Michelle gehört habe. Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, Gott sei Dank nicht. Hier, bitte.«
Sie reichte mir den Ausdruck. Ich faltete das Blatt zweimal. Eigentlich sollte ich es gleich in den Papierkorb werfen, dachte ich, tat es aber nicht. Statt dessen schob ich es in meine Tasche und fuhr mit dem Taxi ins Büro.
Ich holte den Zeitungsausschnitt erst in der Mittagspause wieder hervor, nachdem ich mir in einem Café in der Nähe ein Käse-Tomaten-Sandwich und einen Apfel besorgt hatte und damit in mein Büro zurückgekehrt war. Erneut las ich die wenigen Zeilen: Die Leiche der achtundzwanzigjährigen Tara Blanchard, die als Empfangsdame gearbeitet hatte, war am zweiten Mai von einer Gruppe von Teenagern in einem Kanal im Osten Londons gefunden worden.
In Adeles Brief war von einer Schwester die Rede gewesen. Ich zog das Londoner Telefonbuch aus dem Regal und schlug es auf, ohne mir große Hoffnungen zu machen, aber da stand es: Blanchard, T. M. 23B Bench Road, London EC2. Ich griff nach dem Telefon, überlegte es mir dann aber anders. Ich informierte Claudia, daß ich kurz weg müsse, und bat sie, meine Anrufe entgegenzunehmen. Ich würde nicht lange brauchen.
23 Bench Road war ein schmales, beiges, mit Rauhputz versehenes Reihenhaus, das zwischen zwei andere Häuser eingequetscht war und insgesamt einen ziemlich vernachlässigten Eindruck machte. In einem der Fenster stand eine verdörrte Pflanze, in einem anderen diente ein rosafarbenes Tuch als Vorhang. Ich drückte auf die Klingel von Wohnung B und wartete. Es war halb zwei.
Wenn hier jemand mit Tara zusammengewohnt hatte, war er oder sie um diese Zeit wahrscheinlich nicht zu Hause.
Ich wollte gerade die anderen Klingeln betätigen, um wenigstens ein, zwei Nachbarn herauszuscheuchen, als ich drinnen Schritte hörte und durch das dick gerippte Glas eine Gestalt auf mich zukommen sah. Die Tür öffnete sich einen Spalt weit, und eine Frau starrte mich über die Kette hinweg an. Ich hatte sie offensichtlich aufgeweckt: Sie trug einen Morgenmantel, und ihre Augen wirkten leicht verquollen.
»Ja?«
»Ich störe Sie wirklich nur ungern«, begann ich, »aber ich bin eine Freundin von Tara, und da ich gerade in der Gegend war …«
Die Tür ging zu, und ich hörte, wie die Kette zurückgeschoben wurde. Dann schwang sie weit auf.
»Kommen Sie herein«, sagte die kleine, rundliche junge Frau. Sie hatte einen rötlichen Haarschopf und winzige Ohren.
Ich folgte ihr die Treppe hinauf in die Küche.
»Möchten Sie eine Tasse Tee?«
»Nicht, wenn ich ungelegen komme.«
»Jetzt bin ich schon mal wach«, sagte sie in freundlichem Ton.
»Ich bin Krankenschwester und habe zur Zeit Nachtdienst.«
Sie füllte den Kessel mit Wasser und ließ sich dann mir gegenüber an dem etwas schmuddelig wirkenden Küchentisch nieder.
»Sie waren mit Tara befreundet?«
»Ja«, log ich, wobei ich mich bemühte, möglichst selbstsicher zu klingen.
»Wie war noch mal Ihr Name?«
»Alice. Ich habe sie aber nie hier besucht.«
»Sie hat selten jemanden mit nach Hause gebracht. Ich heiße übrigens Maggie.«
»Ich kannte Tara von früher her«, erklärte ich. Maggie war mit dem Tee beschäftigt. »Ich habe in der Zeitung von ihrem Tod gelesen und wollte wissen, was passiert ist.«
»Es war schrecklich«, sagte Maggie, die gerade zwei Teebeutel in eine Teekanne gab
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