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Höhenangst

Titel: Höhenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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wurden. Er wußte, was er eigentlich tun sollte: aufstehen, wild die Hände zusammenschlagen und seine Gefährten aufwecken. Aber dazu fühlte er sich zu wohl. Es war ein gutes Gefühl, endlich zu liegen und sich auszuruhen.
    Daß er die Kälte nicht mehr spürte, machte es leichter.
    Er blickte nach unten, wo eine seiner Hände, die aus dem Handschuh gerutscht war, in einem seltsamen Winkel von seinem Körper abstand. Bisher war sie immer dunkelrot gewesen, aber inzwischen wirkte sie weiß wie Wachs.
    Seltsam, daß er solchen Durst hatte. In seiner Jacke befand sich eine Flasche, aber die war eingefroren und daher nutzlos für ihn. Um ihn herum lag lauter Schnee, der genauso nutzlos war. Irgendwie war es fast schon komisch. Zum Glück war er nicht Arzt wie Françoise.
    Wo war sie? Als sie das Ende der Leine erreicht hatten, hätten sie eigentlich an dem Paß mit dem dritten Camp sein müssen. Françoise war weitergegangen, und sie hatten sie nicht mehr gesehen. Die anderen waren zusammengeblieben und herumgetappt, bis sie völlig die Orientierung verloren hatten und überhaupt nicht mehr wußten, an welcher Stelle des Berges sie sich befanden.
    Das hatte ihnen die Entschuldigung dafür geliefert, sich irgendwann resigniert in diese Schneerinne zu kuscheln.
    Trotzdem war da etwas, woran er sich erinnern mußte, etwas, das in seinem Kopf verlorengegangen war. Er hatte nicht nur vergessen, wo es war, sondern auch, was es war.
    Er konnte nicht einmal bis zu seinen Füßen sehen. Als sie am Morgen aufgebrochen waren, hatten die Berge in der dünnen Luft geschimmert, und während sich ihre Gruppe langsam über die schrägen Eishänge in Richtung Gipfel vorgekämpft hatte, hatte sich über den Rand der Berge gleißendes Sonnenlicht ergossen, das von dem bläulichweißen Eis reflektiert worden war und ihre schmerzenden Köpfe durchbohrt hatte. Erst waren bloß ein paar Kumuluswolken auf sie zugetrieben, aber dann hatte plötzlich dieser Schneesturm eingesetzt.
    Neben sich spürte er eine Bewegung. Noch jemand war bei Bewußtsein. Mühsam drehte er sich auf die andere Seite. Eine rote Jacke, also mußte es Peter sein. Sein Gesicht war unter einer dicken Schicht grauen Eises verborgen. Es gab nichts, was er für ihn tun konnte. Sie waren eine Art Team gewesen, aber nun steckte jeder von ihnen in seiner eigenen, von den anderen abgetrennten Welt.
    Er fragte sich, wer an diesem Berghang noch im Sterben lag. Aber auch für die anderen konnte er nichts tun. In seinem Schneeanzug hatte er einen Zahnbürstenbehälter mit einer Spritze voller Dexamethason stecken, aber mittlerweile ging selbst das Halten einer Spritze über seine Kräfte. Er konnte die Hände nicht einmal genug bewegen, um die Riemen seines Rucksacks zu lösen. Was hätte er auch tun sollen? Wohin sollte er sich von hier aus wenden? Besser, er wartete. Man würde sie schon finden.
    Die Leute wußten schließlich, wo sie waren. Warum blieben sie so lange aus?
    Die Welt, die unter ihm lag, das Leben, das er vorher geführt hatte, diese Berge, all das war inzwischen so weit unter die Oberfläche seines trägen Bewußtseins gesunken, daß nur noch Spuren davon übriggeblieben waren. Er wußte, daß mit jeder Minute, die er hier oben in dieser sauerstoffarmen Todeszone lag, Millionen seiner Gehirnzellen ausgelöscht wurden. Ein winziger Teil seines Gehirns sah voller Entsetzen und Mitleid zu, wie er langsam starb. Er wünschte, es wäre vorbei. Er wollte nur noch schlafen.
    Er kannte die verschiedenen Stadien des Todes. Fast neugierig hatte er verfolgt, wie sein Körper sich hier auf den letzten Kämmen unterhalb des Chungawatgipfels gegen seine Umgebung zur Wehr gesetzt hatte: Er hatte mit Kopfschmerzen und Durchfall reagiert, mit Atemnot und geschwollenen Händen und Knöcheln. Er wußte, daß er nicht mehr in der Lage war, klar zu denken. Vielleicht würde er Halluzinationen bekommen, bevor er starb. Er wußte, daß er an Händen und Füßen bereits Erfrierungen hatte. Seine verkohlten Lungen waren der einzige Teil seines Körpers, den er noch spürte. Es kam ihm vor, als wäre sein Verstand das letzte, was in dieser zerstörten Hülle noch schwach vor sich hinglomm. Er wartete darauf, daß auch sein Verstand ein letztes Mal aufflackern und dann sterben würde.
    Schade, daß er es nicht bis zum Gipfel geschafft hatte.
    Der Schnee fühlte sich unter seiner Wange wie ein Kissen an. Tomas war warm. Voller Frieden. Was war falsch gelaufen? Es hätte alles so einfach sein

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