Höhenangst
Staub vom Mantel geklopft hatte, leckte ich meinen Zeigefinger ab und rieb mir damit übers Gesicht.
»Wo steckst du, Alice?« Mit erwartungsvoller Miene bog er um die Ecke. Was für ein gutaussehender Mann er doch war.
»Die Frage ist wohl eher, wo du gesteckt hast. Ich hab’
dich überall gesucht!«
»Du hast dir die Hand verletzt.«
»Das ist nur ein Kratzer. Trotzdem sollte ich ihn wohl ein bißchen auswaschen.«
Im Waschraum – einem altmodischen Raum, in dem Adams Vater seine Waffen, aber auch seine Tweedkappen und Gummistiefel aufbewahrte – wusch ich mir die Hände und das Gesicht.
Sein Vater saß im Wohnzimmer in einem Sessel, als wäre er nie woanders gewesen und von uns einfach übersehen worden. Er hatte ein frisches Glas Whisky neben sich stehen. Ich ging zu ihm hinüber und gab ihm die Hand. Unter seiner schlaffen Haut spürte ich seine dünnen Knochen.
»Du hast dir also eine Ehefrau zugelegt, Adam«, sagte er. Wieder entdeckte ich eine Spur Gehässigkeit in seiner Stimme. Er haßt Adam, dachte ich. Ich sah, daß Adam mit so etwas wie lässiger Verachtung auf den alten Mann herunterblickte.
»Bleibt ihr zum Essen?« fragte der Oberst.
»Nein«, antwortete Adam. »Alice und ich suchen uns ein Hotel.« Er half mir in den Mantel, den ich noch immer zusammengerollt unter dem Arm trug. Lächelnd blickte ich zu Adam auf.
26. KAPITEL
Eines Abends trafen sich etwa fünfzehn Leute bei uns in der Wohnung zum Pokerspielen. Sie saßen auf Kissen auf dem Boden, tranken große Mengen Bier und Whisky und rauchten, bis alle unsere Untertassen von Zigarettenkippen überquollen. Um zwei Uhr morgens war ich drei Pfund im Minus, und Adam achtundzwanzig Pfund im Plus.
»Woher kannst du das so gut?« fragte ich, nachdem alle bis auf Stanley gegangen waren. Stanley lag betrunken und mit ziemlich leeren Taschen in unserem Bett. Seine Dreadlocks waren über das Kopfkissen ausgebreitet.
»Das macht die jahrelange Praxis.« Er spülte ein Glas aus und stellte es zum Trocknen auf den Ablauf.
»Manchmal ist es ein so seltsames Gefühl, an all die Jahre zu denken, die wir nicht zusammen waren«, sagte ich. Ich griff nach einem halbleeren Whiskyglas und leerte den Rest in den Ausguß. »Die Vorstellung, daß du mit Lily zusammen warst, während ich mit Jake lebte. Und vorher mit Françoise, mit Lisa und …« Ich hielt inne.
»Wer war noch mal vor Lisa?«
Adam betrachtete mich kühl. So leicht ließ er sich nicht aufs Glatteis führen.
»Penny.«
»Oh.« Ich bemühte mich, lässig zu klingen. »Hat es zwischen Lisa und Penny niemanden gegeben?«
»Niemand Besonderen.« Er zuckte mit den Achseln.
»Weil wir gerade beim Thema sind – in unserem Bett liegt ein Mann.« Ich stand auf und gähnte. »Bist du mit dem Sofa zufrieden?«
»Ich bin mit allem zufrieden, solange du neben mir liegst.«
Es ist ein großer Unterschied, ob man etwas bloß nicht erzählt oder ganz bewußt verheimlicht. Ich nutzte die Zeit zwischen zwei lebhaften Diskussionen, bei denen es um die Terminprobleme wegen Drakloop ging, und rief bei ihr an. Das, so gelobte ich mir, würde das letztemal sein, das allerletztemal, daß ich in Adams Vergangenheit herumschnüffelte. Nur diese eine Sache noch, dann würde ich es endlich bleibenlassen.
Ich schloß die Tür, drehte mich auf meinem Stuhl zum Fenster, durch das ich auf die gegenüberliegende Hauswand sehen konnte, und wählte die im Briefkopf angegebene Nummer. Die Leitung war tot. Um sicherzugehen, daß ich mich nicht verwählt hatte, versuchte ich es gleich noch einmal. Nichts. Nachdem ich bei der Fernvermittlungsstelle angerufen und um eine Überprüfung der Nummer gebeten hatte, sagte man mir, die Nummer sei nicht mehr aktuell. Also fragte ich nach der Nummer von Blanchard, A. in West Yorkshire. Wie sich herausstellte, waren dort überhaupt keine Blanchards eingetragen. Daraufhin fragte ich nach Funston, T, bekam aber die gleiche Auskunft. Ich hätte vor Enttäuschung heulen können.
Wie stellt man es an, wenn man jemanden ausfindig machen möchte? Ich konnte die Auskunftsstellen in sämtlichen britischen Regionen anrufen und mir die Nummern aller Blanchards und Funstons geben lassen, falls vorhanden. Ich konnte auch die Wählerverzeichnisse nach ihnen durchsehen. Lohnte sich diese Mühe?
Ich ging den Brief noch einmal aufmerksam nach Anhaltspunkten durch, obwohl ich bereits wußte, daß es keine gab. Es war ein guter Brief: aufrichtig und tief empfunden. Tom, so schrieb sie, sei
Weitere Kostenlose Bücher