Höhenangst
zugehört und Fragen gestellt. ›Im Moment gibt es keine weiteren Verdächtigen‹, haben sie gesagt. Detective Inspector Byrne, den du ja auch kennengelernt hast, war sehr nett zu mir. Ich glaube, er hatte mir gegenüber ein schlechtes Gewissen.«
Ein Kellner trat mit einem Eiskübel an unseren Tisch.
Das leise Knallen eines Korkens war zu hören. »Mit herzlichen Grüßen von den beiden Herren.«
Wir sahen uns um. Zwei junge Männer in Anzügen hoben grinsend ihre Gläser.
»Was für eine Art Lokal ist das hier eigentlich?« fragte Deborah laut. »Wer sind diese Arschlöcher? Eigentlich sollte ich hinübergehen und ihnen das Gesöff ins Gesicht schütten. Es tut mir leid, Alice, das ist wirklich das letzte, was du jetzt brauchst.«
»Laß«, sagte ich. »Es ist nicht wichtig.« Ich goß den Champagner in unsere Gläser und wartete, bis sich der Schaum aufgelöst hatte. »Nichts davon ist wichtig, Deborah. Dumme Männer, die wie lästige Mücken herumschwirren, blödsinnige Streitereien, banale Kleinigkeiten, die einen wütend machen. Das alles ist es nicht wert, Zeit dafür zu verschwenden. Das Leben ist zu kurz für solche Dinge, meinst du nicht auch?«
Ich stieß mit ihr an.
»Auf die Freundschaft«, sagte ich.
»Auf das Überleben«, antwortete sie.
Hinterher begleitete Deborah mich nach Hause. Wir verabschiedeten uns an der Tür mit einem Kuß auf die Wange. Dann ging ich hinauf in die Wohnung, aus der ich nächste Woche ausziehen würde. Dieses Wochenende wollte ich meine wenigen Habseligkeiten zusammenpacken und mir überlegen, was mit Adams Sachen geschehen sollte. Sie lagen noch in allen Räumen verstreut: seine ausgewaschene Jeans, seine T-Shirts und rauhen Pullover, die nach ihm rochen, seine Lederjacke, sein Rucksack, der mit Kletterzubehör vollgestopft war, die Fotos, die er mit seiner Polaroidkamera von mir gemacht hatte. Nur seine geliebten abgewetzten Bergstiefel waren weg: Klaus hatte sie auf seinen Sarg gelegt. Stiefel statt Blumen. Insgesamt war es nicht viel, was Adam hinterließ. Er war immer mit leichtem Gepäck gereist.
Anfangs hatte ich geglaubt, es keine Stunde, nein, keine einzige Minute mehr in dieser Wohnung auszuhalten. Nun fiel es mir sogar richtig schwer, sie zu verlassen. Trotzdem würde ich am Montag die Tür hinter mir zuziehen, zweimal abschließen und die Schlüssel dem Immobilienmakler übergeben. Ich würde meine Taschen nehmen und mit einem Taxi zu meinem neuen Zuhause fahren, einer gemütlichen Einzimmerwohnung ganz in der Nähe meiner Arbeitsstelle, mit einer kleinen Terrasse, einer Waschmaschine, einer Mikrowelle, Zentralheizung und dicken Teppichen. Pauline hatte einmal, nachdem sie die schlimmste Phase ihres Lebens überstanden hatte, zu mir gesagt, man müsse nur so tun, als ginge es einem gut, dann würde das eines Tages auch wieder so sein. Das Wasser findet immer einen Weg in die Gräben, die man dafür ausgehoben hat. Also würde ich mir ein Auto kaufen und vielleicht eine Katze zulegen. Ich würde jeden Morgen früh zur Arbeit gehen. Ich wußte, daß ich meinen neuen Job gut machen würde. Ich würde alle meine alten Freunde wiedersehen. Es würde kein wirklich schlechtes Leben sein. Die Leute in meiner Umgebung würden nie erraten, daß mir diese Dinge nur sehr wenig bedeuteten, daß ich mich leer und traurig fühlte.
Es würde mir nie gelingen, in mein altes Ich zurückzuschlüpfen, mein Ich vor Adam. Die meisten Leute würden nie die Wahrheit erfahren, so wie Jake zum Beispiel, der jetzt mit seiner neuen Freundin glücklich war, oder Pauline. Sie hatte mich gebeten, die Patin ihres Kindes zu werden, und ich hatte ihr geantwortet, daß ich zwar nicht an Gott glaube, aber sehr glücklich und stolz sei, diese ehrenvolle Aufgabe zu übernehmen. Clive, der weiterhin von einer Beziehung in die nächste stolperte, würde in mir die Frau sehen, die die wahre romantische Liebe erlebt hatte, und mich jedesmal um Rat fragen, wenn er mit einer Frau ausgehen oder sie verlassen wollte.
Auch mit meiner Familie und der von Adam würde ich darüber nicht sprechen können, ebensowenig wie mit Klaus und den anderen Bergfreunden. Das gleiche galt für die Menschen in meiner Firma.
Für sie alle war ich die traurige Witwe des Helden, der auf tragische Weise, von eigener Hand und viel zu jung gestorben war. Wenn sie mit mir – und wahrscheinlich auch über mich – sprachen, gaben sie sich respektvoll und besorgt. Sylvie wußte natürlich Bescheid, aber mit ihr konnte
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